Montag, 1. September 2008

Prekariat: mein Unwort des Jahres

In Deutschland, wie auch europa- und weltweit, wird eine Armutsdebatte geführt. Das ist erst einmal gut, auch wenn zur Zeit populistische Verführer vom Schlage eines Oskar Lafontaine am meisten davon profitieren. Was aber gar nicht gut ist, ist das Vokabular, das dabei verwandt wird. Hartz IV, Unterschicht und ähnliches sind schon ziemlich schlecht, da sie negative Etiketten auf Menschen kleben (Hartz IV) oder mangelnde Qualität oder sogar einen geringeren Grad an Menschlichkeit suggerieren (UNTERschicht). Besonders mies wird es aber bei diesem neuen, ach so griffigen Begriff „Prekariat“, der Millionen von Menschen plötzlich anhängt. Deshalb ist Prekariat mein Favorit für das Unwort des Jahres, das in etwa zwei Monaten gewählt werden wird.

wurm_drin


Schauen wir uns dieses Wort einmal an. Prekariat ist abgeleitet von prekär, was laut Duden soviel wie „schwierig“ oder „heikel“ heißt. Angehängt wurde dann nur eine von „Proletariat“ entlehnte Nachsilbe. Laut Wikipedia ist „Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert ‚ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose’ als eine neue soziale Gruppierung“. Und wer fällt darunter? Wikipedia weiß: „Betroffen sind einkommensschwache Selbstständige und Angestellte auf Zeit, Praktikanten, auch chronisch Kranke, Alleinerziehende, Zeitarbeitnehmer und Langzeitarbeitslose, aber zunehmend auch in wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen Angestellte: Prekariat definiert keine sozial homogene Gruppierung.“

Okay, das Prekariat sind also Leute ohne, mit geringem oder mit unsicherem Einkommen. Ja, die gibt es. Das ist Sch****, aber es gibt sie, und zwar in viel zu großer Zahl. Und die sind also „schwierig“ und „heikel“ – das ist aber eine schöne Art, Menschen zu charakterisieren ... Denn diese Zuschreibung muss man doch wohl wörtlich nehmen, so wie man im 19. Jahrhundert Proletarier als Sammelbegriff für besitzlose, abhängig Beschäftigte wörtlich meinte, was von „proletarius“ abstammte und die niedrigste Schicht im römischen Volk meinte, die zu nichts anderem gut war, als Kinder zu produzieren, die dann beispielsweise in den Legionen zu dienen hatten, wenn sie nicht gleich versklavt wurden.

Doch „Proletariat“ ist ein Substantiv, das eine Gruppe von Menschen beschrieb, eben die Angehörigen einer besitzlosen Bevölkerungsschicht im alten Rom, die proletarii, und später die Gruppe der abhängig Beschäftigten im 19. Jahrhundert. Proletariat klassifiziert also anhand eines Faktums. Prekariat klassifiziert nicht nur sehr ungenau, wenn man mal auf die heterogene Wikipedia-Definition schaut, sonder es klassifiziert auch anhand einer nicht objektiv haltbaren Zuschreibung, ist prekär doch ein Adjektiv – „heikel“ eben. „Heikel“ und „schwierig“, damit also auch „gefährlich“. Keine substantivisches Faktum, sondern eine subjektive, adjektivische Zuschreibung. Das ist immer auch eine Aussage über angebliche Eigenschaften der so klassifizierten Menschen.

‚Prekarier’ sind „heikel“?

Quatsch, es ist ihre Situation, die heikel ist; prekär zu leben ist aber kein Merkmal der Menschen selbst. „Aus prekären Arbeitsverhältnissen folgen prekäre Existenzweisen“, schreibt Thomas Gross in der „Zeit“. Das stimmt natürlich. Durch das Ankleben des Adjektivs prekär wird die Situation nur noch verschlimmert. Denn unterbewusst eignen sich die Angehörigen der Gruppe der prekär lebenden Menschen diese Zuschreibung mehr oder weniger stark an und verlieren dadurch an Kraft, Selbstvertrauen und Änderungswillen. Und auch die Nichtprekarier übernehmen die heikle Zuschreibung mehr oder weniger bewusst, wollen mit diesen „schwierigen“ und „gefährlichen“ Menschen nichts zu tun haben und wünschen nicht, dass ihre Kinder mit ‚deren’ Schmuddelkindern spielen oder lernen. (Ach wie gut, dass wir ein dreigliedriges Schulsystem haben, da bleiben die Schmuddelkinder unter sich ...).

Ist schon klar: Worunter die vom wirtschaftlichen Erfolg abgehängten Menschen hierzulande leiden, ist sicherlich erst in dritter oder vierter Linie das Wort Prekariat – kein Geld, keine Arbeit; krank, unglücklich und mittlerweile sogar wieder hungrig zu sein, das sind die wahren Probleme. Aber man darf die Macht der Sprache und die Kraft der sich selbst erfüllenden sprachlich verfassten Prophezeiungen nicht unterschätzen.

Deshalb lautet mein Unwort des Jahres 2008: Preka****.



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