Gestern saß ich viele Stunden mit so netten Schriftstellerkollegen wie Charlotte Kerner, Anja Stürzer, Jürgen Seidel, Susanne Härtel zusammen, weil wir ein Projekt besprachen, innerhalb dessen ein Buch mit Porträts von Mary Shelley, Stephen King, Bram Stoker, Philipp K. Dick, Stanislaw Lem und Tolkien entstehen wird. Stundenlang bewegten wir uns gedanklich in deren Anderswelten.
Als ich dann im Bett lag und noch etwas Musik hörte, unter anderem „Anderswelt“ von Schandmaul, und den Refrain in mir nachklingen ließ - „Dreimal tanz im Sonnensinn um die alte Stätte hin, dann wird offenstehn die Anderswelt, du wirst sie sehn“ - dachte ich, beileibe nicht zum ersten Male, darüber nach, wie es wäre, die Anderswelt zu betreten. Und ich dachte daran, wie oft ich in Gesprächen mit Freunden, besonders aber auf Cons und im Rahmen von Lesungen, bei Gesprächen mit Fans und Zuhörern, zu hören bekomme, dass bei dieser oder jenem ein sehnlicher Wunsch bestehe, die Anderswelten von Science Fiction und Fantasy betreten zu können. Das ist gut, birgt aber mehr als eine Gefahr. Beispielsweise die der Selbsttäuschung.
Vielgestaltig können die Zugänge zur Anderswelt auftreten
Unterhält man sich intensiver darüber, wie es wäre, Urlaub von unserer Welt nehmen zu können, sie vielleicht sogar gänzlich hinter sich zu lassen, so ist es oftmals ein vielgestaltiges Mängelempfinden, das als Motiv dafür, andere Welten besuchen zu wollen, zutage tritt. Da wird unsere Welt als nüchtern und langweilig oder auch als angsterregend empfunden. Oder, und das scheint mir noch öfter vorzukommen, konkret das eigene Leben wird als mängelbehaftet, als mangelhaft oder ungenügend erlebt. In den Welten von Schwert und Magie oder denen von Raumschiffen und Teleporterstationen wird dann eine Verzauberung des Lebens, meist aber auch eine Aufwertung der eigenen Person oder Bedeutung erwartet. Man will ja dann in der Regel nicht nur von Ferne zusehen, wie Eowyn und Merry dem Herrscher der Nazgûl entgegentreten oder wie Picard mit Q diskutiert, sondern eigentlich will man ja auch mithelfen, will teilhaben - man will „wer sein“ in der Anderswelt.
Vorteil des Ausweichens in die Welten der Phantastik ist aber auch, dass man banalen ebenso wie schwer überwindbaren Problemen im realen Leben ausweicht. Im Star Trek-Universum gibt es beispielsweise kein Geld; das wurde abgeschafft, denn für die materiellen Bedürfnisse aller ist einfach gesorgt. Das ist natürlich besonders attraktiv, wenn der eigene Job lausig bezahlt ist oder man dauernd mit dem Minus auf dem Girokonto kämpfen muss. Kopfnoten, Weiterbildungen. Probezeiten und Praktika, Audits, Zwischenzeugnisse und Beurteilungen sind auch solche Sachen, die einen in Mittelerde nicht belasten können. Und was die Liebe angeht, so findet die meistens entweder nicht statt - was je nach eigener Situation ja auch eine befreiende Vorstellung sein kann - oder sie ist erfüllt.
Natürlich sind realistisch betrachtet die Beschwernisse in der Anderswelt so groß, dass man sie eigentlich jederzeit gegen einen cholerischen Boss oder einen geplatzten Kredit eintauschen würde, denn beides ist sehr viel einfacher zu ertragen, als durch Mordor zu ziehen oder von den Borgs assimiliert zu werden. Aber beim Hinüberträumen ist es ja genau umgekehrt - die phantastischen Gefahren sind abstrakt, die hiesigen konkret und außerdem geht es drüben ja doch fast immer gut aus.
Doch nehmen wir mal an das ginge. Nehmen wir an, man würde den Wandschrank finden, der einen hinüber bringt. Würden Sie gehen? Es muss ja nicht für immer sein. Nehmen Sie einen Ariadnefaden mit und schauen Sie mal kurz. Was würden Sie finden?
Alles mögliche würden Sie finden. Das bleibt ganz Ihrer Phantasie überlassen. Aber eines würden Sie immer auch finden - sich selbst. Und das ist die mögliche große Gefahr, die ich bei diesen Weltfluchtträumen sehe. Wenn Ihre Sorgen auch nur im Geringsten damit zu tun haben, dass Sie mit sich selbst im Unreinen sind, dass Sie ein Problem in der Seele tragen - eine Angst, eine Unzufriedenheit, etwas, dass Sie als Unzulänglichkeit (evtl. auch nur unterbewusst) empfinden - dann werden Sie das in der Anderswelt nicht los.
Sie können vor Situationen flüchten, aber nicht vor sich selbst. Viele Menschen, die glauben, dass sie ihr Leben ändern müssen, realisieren nicht, dass ihr Unbehagen oder Unglück in ihnen liegt und dass sie es mitnehmen werden, egal wovon sie sich ab- und was sie sie sich zuwenden. Dann hilft es auch nicht, bis in den Gammaquadranten vorzudringen.
Manch rettender Ast ist ganz schön kalt
Natürlich betrifft das auf keinen Fall alle Träumer, die gerne ein wenig in den Anderswelten stöbern möchten. Das würde ich bei sich bietender Gelegenheit ja auch nur allzu gerne machen. Und ich hoffe doch sehr, dass ich nicht unbewusst vor mir weglaufen möchte. Zudem kenne ich so manche Andersweltenreisende, von der ich ganz sicher bin, dass sie nicht vor sich weg-, sondern nur aus neugieriger Freude einer Faszination entgegenläuft. Aber ich kenne auch die anderen ...
Es gibt diese Form des Eskapismus, diese Flucht, bei der man das, wovor man eigentlich flieht, mit sich trägt und ihm deshalb nie entkommen kann. Diese Flucht ist falsch! Könnte das auch auf Sie zutreffen? Ich hoffe doch nicht. Falls aber doch - auch beim leisesten „könnte“ - erforschen Sie sich. Denken Sie einfach ehrlich über sich nach. Das mag schwieriger werden als die komplizierteste Meditationsübung, aber es gibt am Ende nur diesen einen Weg.
Die Anderswelten von Buch, Film und Onlinerollenspiel können ihnen nicht helfen, sich vor sich selbst zu verstecken; Sie werden dort nicht glücklich werden, wenn Sie das Unglück mitbringen.