Darnstädt äußert die Sorge, dass die Digitalisierung der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit selbst zerstören könnte, denn der ständige und bleibende Zugriff auf nahezu alle im öffentlichen Raum erzeugten Daten bewirke, dass man sich nicht mehr in die Öffentlichkeit des Netzes traue:
“Die erste Hoffnung des Bürgers, der etwas Dummes gesagt hat, ist die, dass es keiner gehört hat. Doch Google findet alles. Die zweite Hoffnung, dass es irgendwann in Vergessenheit gerät. Doch digitale Speicher halten sehr lang.”
Wir reden dabei nicht über Meineide, Steuerhinterziehung oder Ehebruch, sondern über alle möglichen Dummheiten, die man so begehen kann. Wie beispielsweise die, einem Film Genialität zuzusprechen, auch wenn er sie im wahren Sinne des Wortes nicht hat.
Doch, doch; ich finde Inception immer noch “genial” - aber eigentlich mehr so im Sinne von geil oder toll. Simon Spiegel, der durch ein sehr gutes Buch über die Poetik des Science-Fiction-Films bekannt wurde, wies aber zurecht darauf hin, dass der Film doch einige Ungereimtheiten aufweise.
Richtig. Und damit - das hat Simon jetzt netterweise nicht gesagt - kann man die Story schwerlich als wirklich genial bezeichnen, denn diese Schwächen widersprechen dem, was man im Allgemeinen als genial ansieht (“genial” laut Fremdwörterduden: “großartig, vollendet”).
Blöde Sache, oder? Der bekannte Autor, der landauf, landab über die Phantastik doziert, macht einen solchen Fehler. Und jeder kann den jetzt “hören” und das Netz wird ihn nicht mehr “vergessen”. Und das trifft auf Millionen anderer digitalisierter Äußerungen zu, die Millionen anderer Menschen jetzt oder später gerne wieder einfangen würde ... Chef-Schelte, Kotz-Videos, Wutausbrüche - was auch immer ...
Wie geht man damit um? Neben der Verweigerung der Teilhabe gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Neues Schreiben (vorsichtigeres, zurückhaltendes ... unehrliches Schreiben) aneignen oder Neues Lesen lernen.
Auf die Verweigerung der vernetzten Kommunikation gehe ich jetzt nicht ein, das ist ein anderes Thema. Auch ein anderes Thema ist, dass man sich oftmals nicht verweigern kann, obwohl man dies vielleicht vorzöge.
Neues Schreiben (darunter fällt auch das Posten von Video, Audio - gemeint ist jede ‘Lautäußerung’ im Netz) ist im Grunde das, was die meisten Medien und Bildungsinstitutionen als Ratschlag anbieten: Sei vorsichtig! Denk drei Mal nach, bevor Du einmal schreibst! Halte möglichst viel zurück! Denke strategisch! Stell Dich vorteilhaft dar!
Ja ja, das ist sicherlich das Klügste ... Aber ist es auch das, was ich sein will? Nöö. Denn das bin ich nicht, zumindest nicht nur. Ich bin nicht nur vorsichtig; ich bin impulsiv, manchmal einfach mitteilsam und will, wenn schon darstellen, dann mich darstellen, wie ich bin. Aber das ist natürlich nur ein persönliches Problem.
Vor allen Dingen kollidiert das Neue Schreiben aber mit grundlegenden Freiheits- und Demokratiegedanken. Das kontrollierte Posten von Inhalten, die in erster Linie mit dem Blick auf ihre eigenpositive Wirkung angefertigt wurden, stellt nichts weniger dar als die Schere im Kopf und ist somit Zensur aus vorauseilendem Gehorsam.
Zu Freiheit und zu demokratischem Zusammenleben gehört aber, sich gemäß der eigenen Überzeugungen einzubringen. Es ist letztlich der berühmte Habermas-/Apelsche herrschaftsfreie Diskurs, der vom Neuen Schreiben unterdrückt wird und somit ein Rückschritt bis mindestens vor die gesellschaftspolitischen Erkenntnisse der späten Sechziger des letzten Jahrhunderts.
Aber da ist doch das Diktat des imaginierten Personalchefs oder des einem in zehn Jahren über den Weg laufenden potentiellen Partners, die beide googeln können ... Wie entkommt man denen?
Gar nicht. Denen kann man nur durch das Neue Schreiben entgegenkommen. Es sei denn natürlich, diese beiden - und alle anderen Menschen - gewöhnten sich das Neue Lesen an.
Das Neue Lesen ist in erster Linie ein kontextbezogenes Lesen, das den Leser auffordert, die Umstände eines Postings immer mitzuberücksichtigen. Im Zeitungsartikel oder wissenschaftlichen Arbeit gelten andere Regeln, als im Small Talk. Privat kann heute öffentlich stattfinden und ist doch nicht das Gleiche wie eine Publikation. Und in sozialen Netzwerken kommt beides vor.
Öffentliche Kommunikation: nicht immer schlau oder schön ...
Angebereien, Streiche, Unwahrheiten - das sind vollkommen normale zwischenmenschliche Vorkommnisse, die eben auch ihren Weg ins Netz finden können. Auch Lügen sind im täglichen Miteinander nötig, um sich und andere zu schützen und zu schonen. All das ist im Netz ebenso entschuldbar - und sollte entschuldigt werden -, wie wir das üblicherweise in der physischen Welt auch tun.
Selbst so etwas Ekliges wie die Teilnahme an Cybermobbing (solange nicht gerade Rädelsführerschaft beweisbar ist) ist gemein, kann aber prinzipiell entschuldbar sein. Wer meint, das nicht vergeben zu können, sollte an das Glashaus derjenigen gruppendynamischen Prozesse denken, in denen er selbst gefangen ist. Das Neue Lesen geht jedenfalls ebenso nachsichtig mit den Internetteilnehmern um wie mit einem fassbaren Gegenüber, den Sie ja hoffentlich auch nicht sofort verdammen.
Fast jeder Jugendliche hat auf einer Fete schon einmal Scheiß fabriziert, und es ist auch nicht unbedingt unterhaltsam, derartigem Unsinn auf YouTube zuzuschauen. Aber es disqualifiziert ihn oder sie auch in keiner Weise, wenn der Blödsinn mal videotechnisch dokumentiert wurde. Also - Schwamm drüber. Usw.: Unbequemes auch mal überlesen, nicht alles auf die Goldwaage legen, Nachsicht zeigen. Und selbst doch immer versuchen, sich an die Netiquette zu halten! Dann wird es schon was mit dem Netznachbarn ...
Was wir lernen müsse, ist, die neuen Formen der Schriftlichkeit richtig einzuordnen und sie nicht mit der alten Schriftlichkeit zu verwechseln. (Dazu gehören, wie gesagt, auch Foto, Video und Audio - vielleicht sollten wir von neuen Formen unvergänglicher Kommunikationsinhalte reden, wenn das nicht so sozio-bürokratisch klänge.)
Das hat es ja auch schon einmal in ähnlicher Form gegeben. Die grandiose Briefkultur ab dem 18. Jahrhundert in ganz Europa unterschied sehr wohl die gelehrten publizierten Schriften von den manchmal auch gelehrten, oft aber auch einfach persönlichen, frechen, unbedachten und flapsig dahingerotzten Briefen, ohne dass letztere gleich den Ruf ihrer Schreiber wie Voltaire, Goethe oder Heine in den Dreck gezogen hätten.
Für den gefürchteten, angeblich IT-belesenen Personalchef unserer Zeit heißt das: Lerne das Neue Lesen! Trenne Privates von beruflich Relevantem und erinnere Dich vor allem daran, dass Du früher in der Jugend und heute im Privatleben auch anders auftratest und -trittst.
(Wenn es dann aber bei aller hoffentlich nun einsetzenden Fairness doch einfach nicht zu ertragen ist, dass jemand sich so und so darstellt, dann ist es wahrscheinlich sowieso besser, dass diese beiden nicht beruflich zusammenkommen.)
Das Neue Lesen ist jedenfalls dem zur Zeit viel vehementer geforderten Neuen Schreiben weit überlegen: Es ist ehrlicher, entspricht unserem sozialen Wesen viel mehr und es hilft, Öffentlichkeit und demokratische Teilhabe zu erhalten, die das Neue Schreiben durch die Schere im Kopf in der Tat bedroht.
So, und jetzt rümpfen Sie bitte nicht mehr die Nase über die Castle Age-Battle Requests auf meiner Facebookseite, die gehören nämlich manchmal auch zu mir ...
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