Donnerstag, 10. Dezember 2009

Aus gegebenem Anlass: Mal wieder Thema Eskapismus

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel macht diese Woche mit einer seiner berüchtigt pessimistischen Titelgeschichten über die aktuellen Zeitläufte auf und analysiert die Zeit von 2000 bis 2009 als das „Verlorene Jahrzehnt“, in dem der 11. September, die Finanzkrise und der Klimawandel für eine umfassende Wende zum schlechteren, verbunden mit dem Verlust fast aller Hoffnung, verantwortlich gemacht werden. Illustriert wird das nach Meinung der Autoren auch und besonders charakteristisch durch den großen Publikumserfolg von Harry Potter und der Verfilmung von Der Herr der Ringe. Dieser Erfolg hat selbstverständlich nichts mit der Qualität der beiden Werke zu tun, sondern ist Ausdruck einer allgemeinen Weltfluchttendenz angesichts der hoffnungslosen Situation des Lebens auf unserem krisengeschüttelten Planeten. Die beiden märchenartigen Geschichten entführen ihre Zuschauer und Leser in bessere Welten, um sie des Nachdenkens über echte Probleme zu entheben - mal wieder Thema Eskapismus. Ein Eskapismus natürlich, das insinuiert schon die Nennung in dem Zusammenhang mit dem Verlorenen Jahrzehnt, der individuell wie gesellschaftlich und politisch von größter Verantwortungslosigkeit zeugt, denn wer Tolkien liest, kümmert sich schließlich nicht gleichzeitig um den Weltfrieden.

IMG_2481_2
Türen in fremde Welten helfen ...

Allerdings haben sich die Spiegel-Redakteure, wie ich finde, keinen Gefallen damit getan, ausgerechnet diese beiden Fantasyerzählungen auszuwählen. Und damit ziehe ich mich nicht auf die bekannte Replik des Herr-der-Ringe-Autors Tolkien zurück, dass Fluchten ins Phantastische angesichts der nüchtern-trostlosen Moderne legitime Fluchten eines Gefangenen aus dem Gefängnis einer ent-ästhetisierten Welt sind.

Ich halte die Beispiele Harry und Mittelerde für schlechte Eskapismusbeispiele, weil sie beide überhaupt nicht weltabgewandt sind. Doch der Spiegel hält sie für „KIndergeschichten“ und schließt im Weiteren: „Man zieht sich zurück in eine infantile Welt, in der herzige Helden das Böse besiegen.“ Und das natürlich nur, um den Kopf in den Sand zu stecken: „Das moderne Märchen ist die Antwort auf eine ruppige Welt.“ (Alle Zitate S. 154.) Oh ja, Verantwortungslosigkeit pur!

Die „herzigen Helden“ sind natürlich die übliche Spiegel-Polemik und wären gar nicht so schlimm, wenn sie auch nur annähernd den Werken entsprächen, denn schließlich sei auch dem Spiegel gestattet, seine Punkte zu machen, wie er es für richtig hält. Aber anhand dieser Beispiele zeigt sich einfach, dass die Herren Kurbjuweit und Steingart sowie Frau Theile schlicht keine Ahnung haben, wovon sie schreiben.

Wo nämlich die Herzigkeit zu finden sein soll, kann sich dem Publikum nicht erschließen. Etwa in den Folterszenen zwischen Dolores Umbridge und Harry Potter? Oder wenn Sam und Frodo sich am Ende ihrer Kräfte durch die tödliche Ödnis Mordors schleppen? Egal. Geschenkt, würde ich sogar sagen - denn die Bemerkungen sind ja nur Randnotizen zum großen Thema des Artikels -, wenn nicht die Werke und das Publikum damit erstens en passant mal wieder beleidigt würden und zweitens nicht schon wieder der unzutreffende Gemeinplatz bedient würde, dass Fantasy mindestens belanglos, vielleicht aber sogar gefährlich ist, denn sie verhindert ja den Blick auf die wichtigen Dinge.

Aber schauen Sie sich diese herzigen Welten doch einmal an. Nein, es muss gar nicht das bedrückende verheerte Land sein, in das der ‚herzige’, an Lepra erkrankte Held Thomas Covenant geworfen wird (von dieser Fantasy-Serie redet der Spiegel ja auch nicht - meine Entschuldigung). Nein, ich meine das ach so herzige Hogwarts und die herzige Welt Mittelerde.

In Hogwarts erlebt Harry Potter in 7 Bänden eine typische Coming-Of-Age-Geschichte, einen Entwicklungsroman wie es ihn seit Jahrhunderten gibt; klassisches Literaturarsenal sozusagen. Lässt man einmal die phantastische Kulisse beiseite, so findet man eine durchaus realistische Geschichte über die Probleme des Aufwachsens. In höchstem Maße zugespitzt zwar, aber Zuspitzungen sind völlig normal in allen Arten von Romanen und Filmen, um die Punkte zu verdeutlichen, über die die Autorin, der Regisseur Aussagen machen möchte. Dass die Zuspitzungen bei Harry Potter bis ins Übernatürliche hineinreichen, ist weder für die Form noch für die Aussage von Belang. Todes- und Liebeszauber in Fantasy sind nichts weiter als Metaphern für menschliches Handeln. Worauf es ankommt, ist, ob die Geschichte als Geschichte überzeugt und anspricht. Und die ist komplex und reichhaltig, die Charaktere besitzen Tiefe und die Entscheidungen, die den Protagonisten abverlangt werden sind schwierig und folgenschwer - ganz ähnlich wie jeder Jugendliche zu ahnen beginnt, dass alles, was er tut komplex und folgenschwer ist. Jedenfalls ist es keine infantile Welt, in der einfach mal so das Böse besiegt werden kann.

Auch Mittelerde ist keine Welt, in der rechts das Böse und links das Gute stehen und Links mal eben nach Rechts rüberrennen kann, um die Geschichte in allgemeinem Wohlgefallen aufzulösen. Nicht einmal bei Jackson ist sie das ... und um wie viel weniger bei Tolkien, wie Steingart, Kurbjuweit und Theile leicht einsehen sollten, wenn sie sich mal mit Feanor oder Turin befassten oder auch nur über Gollum nachdächten, von dem auch sie schon gehört haben dürften. Es ist eine noch einmal deutlich komplexere Welt als Hogwarts, die Tolkien da erschaffen hat, in der es Unmengen an Gedanken, Überzeugungen und Ideen zu entdecken gibt. Allein der melancholische Niedergangscharakter - der ebenfalls bei Jackson zu sehen ist - gibt schon so vieles zu bedenken, dass nicht wenige Kritiker Tolkien deshalb in eine Reihe mit den großen Kriegspoeten wie T. S. Eliot und Erich Maria Remarque gestellt haben. Herzig? Nein, Modernitätskritik und der Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs finden ihre phantastisch vebrämte Aufarbeitung.

DSC_6395_2
... die Tür zur eigenen Welt zu öffnen

Und die vermeintlichen happy endings? Sie sind es ja wohl, die den Hauptimpuls zum Eskapismus bergen, über den die Autoren sich mokieren. Märchen - und selbst die sind nicht so naiv wie der Spiegel-Artikel es wohl gerne darstellen würde - enden oft mit der Aussage, dass nach den Ereignissen alle glücklich und zufrieden leben, eventuell bis heute und gleich um die Ecke. Doch welches Fazit können die Helden Harry und Frodo ziehen? In Harrys Fall endet die Geschichte glücklich, aber das Happily-Ever-After-Gefühl stellt sich nicht ein. Es ist gut, aber es fühlt sich eher an wie: „Es ist geschafft.“ Und es war verdammt hart, dorthin zu gelangen. Exakt so, wie sich der vollzogene Austritt aus der Jugend anfühlt. Und für Frodo - und die gesamte Welt Mittelerde, die nun auf allen elbischen Zauber verzichten muss - gibt es überhaupt kein Happy End, denn seine Wunden sind so tief, dass er es nicht mehr in der Welt, die er rettete, aushält und sie verlassen muss.

Harry und Frodo haben gelernt, dass man mitunter große Opfer bringen muss und bilden damit ab, was Menschen im wahren Leben tagtäglich erleben. Dass es überhaupt zu Enden kommt, bei denen wenigstens das Böse nicht triumphiert, verleiht unserer Minimalhoffnung Ausdruck, dass wir das Leben halbwegs anständig bewältigen werden und ist als solches nur legitim. Natürlich sind Hogwarts, Mittelerde und all die anderen zauberhafte Welten, die in sich hinein entführen wollen. Harry, Mittelerde und ein großer Teil der Fantasy erinnern uns aber auch daran, wie steinig der echte (Lebens-)Weg ist. Mit Weltflucht hat das nicht viel zu tun, viel eher ist es zutreffende Diagnose, von den Ärzten Rowling und Tolkien - so wie jeder gute Arzt es machen würde - angereichert mit einem Schuss Hoffnung, der Mut macht, den Weg weiter zu gehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen