Man muss sich bei einer literaturwissenschaftlich orientierten Sichtweise auf die Phantastik in der Tat mit Todorov befassen, denn vor allem die Herangehensweise ist wichtig, um die literaturwissenschaftliche Diskussion zu verstehen. (Oder nein, muss man nicht unbedingt, Uwe Dursts Theorie der phantastischen Literatur, LitVerlag 2010, ist aktueller, umfangreicher und besser - aber genauso schwer zu verstehen.) Zum Glück kann man sich Todorov jetzt aber viel einfacher nähern, denn der Wissenschaftler und Journalist Simon Spiegel hat eine exzellente Einführung in Todorovs Werk geschrieben, das die Originallektüre zwar nicht ersetzt, aber sie auch für den Fachfremden so aufschlüsselt, dass man Todorov nun folgen und ihn angemessen im Theoriekanon verorten kann: Simon Spiegel: Theoretisch Phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau: p.machinery 2010.
Dies behaupte ich auch auf die Gefahr hin, dass Todorov-Fans bzw. Vertreter der strukturalistischen Denkschule das ganz anders sehen mögen, denn Spiegel geht sehr kritisch mit Todorov um (Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, Ullstein 1972; nur noch antiquarisch auf Deutsch erhältlich, aber problemlos in Englisch, Französisch zu erwerben). Vielleicht ist kritisch aber auch das falsche Wort, denn Spiegel zeigt die durchaus vorhandenen positiven, weil erkenntnisfördernden Seiten von Todorovs Theorie der Phantastik auf, und ordnet sie dann, methodisch sauber, in das Gesamtgefüge der möglichen Literaturbetrachtungen ein; eine Einordnung, bei der Todorov dann aber manche Feder lässt, denn Spiegel kann schlüssig zeigen, dass die Theorie der Phantastik einen ziemlich engen Geltungsbereich hat und ganz viele Fragen, die sich dem Publikum phantastischer Werke stellen, gar nicht beantworten kann (aber auch nicht beantworten will).
Todorov ist Strukturalist, was heißt, dass er sein Untersuchungsgebiet anhand struktureller Merkmale und gänzlich innerhalb des Untersuchungsgebiets verbleibend betrachtet: Es zählt das Buch/der Film als solcher, sonst nix. Die phantastische Literatur hat so besehen beispielsweise keinen Bezug zur Realität. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie etwa auf diesen Seiten lesen können - mich interessiert, in welchem Verhältnis zur Realität die Phantastik steht, und was man aus ihr lernen kann. Für den Strukturalisten gibt es auch keine gute oder schlechte Literatur, nur Literatur mit bestimmten Merkmalen - der Struktur -, die eine Zuordnung erlauben. Der Strukturalist enthält sich damit jeglicher Interpretation - was darin begründet ist, dass Interpretationen nicht objektivierbar sind, und damit einen nicht unproblematischen wissenschaftlichen Charakter haben. Das ist auch alles wissenschaftlich sehr sauber, wenn man es durchhalten kann.
Das kann man auch alles bei Todorov selbst lesen, aber es hilft ungemein, wie Spiegel das herausarbeitet. Und damit gleichzeitig herausarbeitet, dass selbst Todorov große Schwierigkeiten hat, dem hohen Anspruch gerecht zu werden. Dauernd kommt es nämlich doch zu Vergleichen oder Beziehungen von Literatur und Realität sowie zu wertenden Einlassungen. Das dürfte auch kaum zu vermeiden sein, denn - das steht so nicht bei Spiegel, aber ich empfinde es so - ein wirklich sortenreiner Strukturalismus, stellt nichts weiter als die Konstruktion von Schubladen dar. Schubladen aber eignen sich nur zum Verstauen von Dingen, wir wollen jedoch mit der Phantastik umgehen (lernen).
Was an der Phantastik interessiert, ist doch beispielsweise die alte Frage: Was will der Autor damit sagen/erreichen? Oder es geht darum, warum die Science Fiction in den Vierzigern und Fünfzigern boomte, warum sie in den Sechzigern und Siebzigern so kritisch wurde und wieso die Fantasy gerade jetzt ein Allzeithoch zu haben scheint. Oder eben, welche Bücher und Filme gut sind. Oder was die Faszination der Phantastik ausmacht. Das interessiert aber aus strukturalistischer Sicht alles nicht beziehungsweise es ist ein Tabu, denn hier wird es interpretatorisch, und interpretieren darf der Strukturalist nicht.
Nachdem Spiegel das sehr schön herausgearbeitet hat, kann er auch deutlich machen, was hinter den - na ja, ich sage mal eigenwillig -, was hinter den eigenwilligen Kategorien der Phantastik bei Todorov steckt. Die reine Phantastik macht Todorov ja beispielsweise daran fest, dass sie ein Schwebezustand sei, in dem unentscheidbar ist, ob Geschehnisse natürliche oder übernatürliche Ursachen haben. Eine so verstandene Phantastik trifft natürlich auf sehr enge Grenzen und hat insbesondere mit aktueller phantastischer Kunst nicht viel zu tun. Aber auch das arbeitet Spiegel sehr schön heraus, wenn er auf den eingeschränkten, von Todorov zugrundegelegten Kanon verweist, und dass die Gültigkeit von Todorovs Überlegungen in besonderem Maße zeit- und werkabhängig ist. (Was die Auswahl im Übrigen auch zu einer sehr subjektiven Angelegenheit macht; nee, dat wird vorne und hinten nix mit der Objektivität, Leute.)
Die größte Stärke für den interessierten Laien ist aber Spiegels Dechiffrierung der literaturwissenschaftlichen Sprechweisen und Codes von Todorov und einschlägigen anderen Autoren. In "Theoretisch Phantastisch" wird alles auf eine klare Sprache heruntergebrochen; eine Ausdrucksweise, die ich persönlich für die einzig wahre halte, während der sonstige Wissenschaftssprech, gerade in den Kulturwissenschaften, für mich mehr mit standesdünkelhaften Ausgrenzungsversuchen zu tun hat als mit den Erfordernissen einer schwierig zu umschreibenden Materie. Ein Beweis, dass das geht, ist Spiegels Buch. Das kann manchmal, gerade auf den ersten Seiten, wenn man sich noch hineinliest, ein bisschen herablassend wirken, ist aber keinesfalls so gemeint. Spiegel zeigt damit viel eher, dass er sein Publikum ernst nimmt und verstanden werden will. Für mich ist der Stil jedenfalls beispielhaft, und ich werde versuchen, mich selbst noch mehr in diese Richtung zu entwickeln.
Übrigens ist Theoretisch Phantastisch auch sehr schön ausgestattet, mit übersichtlichem Layout, hilfreichen Marginalien und dezenter Bebilderung. Besonders hervorzuheben sind die schönen Zeichnungen von molosovsky (etwa das Titelbild, s. u.), Porträts, in dem gleichen Stil, wie sie auch seine Website schmücken: molochronik.antville.org/.
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