Freitag, 10. Dezember 2010

Mit zweierlei Maß: die Berichterstattung über Liu Xiaobo und WikiLeaks

Komische Medien diese Woche: Julian Assange von WikiLeaks wird trotz völlig unklarer juristischer Grundlage ins Gefängnis geworfen und der Blätterwald rauscht erleichtert. Heute kann der zu Unrecht im Gefängnis einsitzende Menschenrechtsaktivist Liu Xiaobo seinen Friedensnobelpreis nicht entgegennehmen, und die Medien klagen. Dass sie klagen, ist rechtens, nötig und sehr zu begrüßen. Warum sie aber über den heftigen Schlag gegen WikiLeaks erleichtert sind, ist schwer zu verstehen. Weshalb wird mit zweierlei Maß gemessen?

Zuerst drängt sich natürlich der Gedanke auf, dass Liu Xiaobo gegen ein erwiesenes Unrechtsregime beschützt werden muss, während die etablierten Medien den Rechtsstaaten USA, Großbritannien und Schweden einen Vertrauensvorschuss geben und den ‘Geheimnisverrat’ WikiLeaks auf ‘verantwortungsvolle Weise’ kritisch beurteilen müssen. Doch das ist es meiner Meinung nach nicht allein und wahrscheinlich nicht einmal zuerst. Vielmehr geht es gerade in diesem Fall darum, Besitzstände zu wahren und den gesellschaftlichen Diskurs unbedingt so weiterführen zu wollen, wie er schon immer (seit knapp hundert Jahren - ha ha ha) ablief.

Liu Xiaobo ist ein klassischer Demonstrant in der Nachfolge vieler anderer großer Menschen, wie etwa seines Vorgängers Carl von Ossietzky, dessen Schicksal er vielleicht wird teilen müssen. Klassische Demonstranten aber sind ein sehr schöner, weil einfacher Fall für die etablierten Medien. Klassische Demonstranten und deren Anliegen kann man nämlich wunderbar begleiten - wahlweise sympathisierend, aufrüttelnd und ermunternd, wenn es opportun ist, aber auch durch Verschweigen, Marginalisieren und Lächerlichmachen.

WikiLeaks (es geht nicht um Assange, es geht um WikiLeaks!) aber kann man nicht so einfach begleiten, denn das Erscheinungsbild und die Aussagen von Wikileaks unterliegen nicht mehr der Steuerung durch die etablierten Medien. WikiLeaks spricht auf uninterpretierte Weise selbst, und das ist etwas, was die publizierende Meinung nicht gerne hat.

Sie wird sich aber dran gewöhnen müssen - zumindest wenn die Welt so glücklich ist, weiter freie Publikationskanäle zu besitzen (die Privatisierung des Internets in große, zentral steuerbare Plattformen wie Facebook, Google und andere macht Sorgen). Wenn die freien Meinungsäußerungsmöglichkeiten aber so bleiben, wie sie sind, dann ist es mit der gemütlichen Ruhe der bisherigen Meinungsmacher vorbei.

Natürlich schreien sie auf - wie gerade jetzt - und gemahnen daran, welch potentielle Gefahr doch in der unreflektierten Publikation brisanter Themen stecke und bezweifeln, dass der plötzlich publizierende ‘Laie’ über die Sachkenntnis und das Verantwortungsgefühl verfüge, das seine Publikationstätigkeit erfordert.

Nun, die Sachkenntnis kommt bei den Graswurzel-Publizisten in der Regel schon daher, dass sie meist aus den Bereichen berichten, in denen sie leben und arbeiten. Fehler unabsichtlicher wie absichtlicher Art werden zudem schnell aufgedeckt, denn Zweit-, Dritt- und Viertexperten lesen immer mit.

Und was das Verantwortungsgefühl angeht, so hoffe ich doch, dass die publizierenden ‘Laien’ sich diesbezüglich nicht gerade die Medienprofis von RTL, SAT1 und BILD-Zeitung zum Vorbild nehmen, sondern bessere Maßstäbe anlegen. Zudem ist das Graswurzel-Phänomen von ständigem Austausch und kollaborativer Arbeit gekennzeichnet, die Zirkel bilden, in denen Verantwortung immer mitdiskutiert wird. Das ist nicht fehlerfrei, steht dem Verantwortungsgefühl der professionellen Redaktionskonferenz jedoch nicht nach und der einsam getroffenen Verlegerentscheidung schon mal gar nicht.

Wenn also diese Woche mit zweierlei Maß über Liu Xiaobo und WikiLeaks berichtet wird, so hat das auch damit zu tun, dass es um Macht geht, um Meinungsmacht. Und die lässt man sich auch im liberalen Westen ungern wegnehmen. Muss man aber zulassen, denn die freie Meinungsäußerung gilt für alle, nicht nur für die ‘Profis’. Dann können wir auch gemeinsam für Liu Xiaobo und WikiLeaks schreiben, denn die schreiben auch für uns.

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