Es ist ein neues Buch im Oldib-Verlag erschienen, an dem polyoinos als Herausgeber und Autor beteiligt war:
Zwischen den Spiegeln. Neue Perspektiven auf die Phantastik. Es enthält neun Aufsätze zur Phantastik im Allgemeinen sowie Tolkien im Besonderen, die vor allem eines vereint: Sie spiegeln die Arbeitsgebiete wieder, die
Friedhelm Schneidewind beschäftigen. Denn dieses Buch ist vor allem eine Festschrift für ihn, für einen bedeutenden Phantastikforscher, dessen schwere Erkrankung uns vor einem Jahr wieder einmal zeigte, dass Forschung besonders an den forschenden Personen hängt, und den wir deshalb mit diesem Buch ehren und auch Trost und Hoffnung spenden wollten. Zur Entstehungsgeschichte des Bandes, die von traurig bis zu komisch reichte, gibt es hier einen eigenen
Blogbeitrag.
Dazu ist es uns gelungen, Freunde zusammenzutrommeln, die alle gerne - und mit Herzblut - dazu beigetragen haben, einen würdigen Sammelband auf die Beine zu stellen. Das ergab eine Autorenmischung von frischen jungen Autoren, wie Sebastian Kleinen, der hier seine erste Publikation vorlegt, bis zu alten und im Genre bestens bekannten Hasen, wie Helmut Pesch oder Thomas Honegger. Tüpfelchen auf dem i war der unschätzbare Beitrag von Anke Eissmann, die das Cover entworfen und jeden einzelnen Beitrag mit einem eigens gezeichneten Bild eingeleitet hat.
Natürlich können Sie von mir hier nichts anderes erwarten als einen Lobpreis des Buches, aber ich glaube, der ist berechtigt und weise deshalb mit nicht geringem Stolz auf den Band hin.
Worum es im Einzelnen geht? Das erfahren Sie in dem folgenden Auszug aus der Einleitung:
Frank Weinreich (ich weiß, der Esel nennt sich selbst zuerst, aber meiner ist nun mal der erste Beitrag in dem Buch ...) untersucht in
Die Pole der Fantasy die Bandbreite des Genres Fantasy hinsichtlich ihrer Wirkung am Beispiel des von
J.R.R. Tolkien ins Spiel gebrachten Begriffes der Verzauberung - enchantment (
On Fairy Stories, OFS 14) -, die Genrewerke auszulösen vermögen. Er zeigt dabei eine Entwicklung der Fantasy auf, die sich von Tolkiens Prinzip der Verzauberung entfernt und stattdessen einen zunehmend realistischen Ansatz verfolgt, der seinen derzeitigen Höhepunkt in den Büchern
Joe Abercrombies findet, dem es auf die Verzauberung seiner Leser überhaupt nicht mehr anzukommen scheint. Da aber Fantasy eine spielerische Suche darstellt, die Bedürfnisse des Menschen nach Sinn und einer höheren Ordnung zu befriedigen, droht das Genre auf diesem Wege, seinen ursprünglichen Charakter grundlegend zu wandeln. Dass dies trotz aller Weiterentwicklung und Modernisierung von Erzählweisen und -themen nicht zwangsläufig so sein muss, und dass Fantasy ihre Leserinnen und Leser weiterhin in zauberhafte Reiche zu entführen vermag, zeigt Weinreich abschließend am Beispiel der Werke
Andrzej Sapkowskis und seines
Geralt-Zyklusses auf.
Anja Stürzer zieht in Wormtongue und Wormtail einen Vergleich zwischen Tolkiens
Lord of the Rings und
Joanne K. Rowlings Harry Potter. Obwohl Rowling einen wesentlichen Einfluss Tolkiens auf die Bücher ihres Zauberschülers bestreitet, gelingt es Stürzer, manche Parallele als offensichtlich ins rechte Licht zu rücken und andere, erstaunlichere Parallelen vor Augen zu führen, die doch eine engere Verwandtschaft zwischen diesen beiden Fantasy-Highlights nahelegen, als dies der erste Blick auf die beiden Bücher vermuten lässt. Dabei beschränkt die Autorin sich nicht auf eine mehr oder weniger ergiebige Aufzählung inhaltlicher Details, sondern lässt Strukturelemente, Erzähltechniken, Figurenkonstellationen, die unterliegenden Ethiken und den mythologischen Hintergrund in den Vergleich einfließen, sodass neben einer bloßen Gegenüberstellung auch weitergehende Analysen für beide Werke vorgenommen werden.
Im Blickfeld von
Julian Eilmanns Aufsatz steht Tolkiens
Die Kinder Húrins, eine Erzählung, die bei manchen Lesern den Eindruck erweckt, dass es sich hierbei um ein „tragisches“ Werk handelt. Diesen Leseeindruck greift Julian Eilmann in seiner Studie auf und geht der Frage nach, inwiefern die Geschichte Túrin Turambars tatsächlich als eine Tragödie im Sinne der aristotelischen Tragödientheorie verstanden werden kann. Durch einen genauen Vergleich zwischen den von Aristoteles beschriebenen Wesensmerkmalen der Tragödie und Tolkiens Erzählung wird dabei deutlich, wie die tragische Wirkung der Túrin-Geschichte im Detail zustande kommt und was den besonderen Reiz der Erzählung ausmacht.
Drachen stellen eines der bekanntesten Wesen der Phantastik dar und sind deshalb immer wieder in zahlreichen mythologischen Texten und Werken der phantastischen Literatur präsent. Nicht zuletzt Tolkien hat den Drachen in den Gestalten Smaugs oder Chrysophylax´ ein literarisches Denkmal gesetzt. Professor
Thomas Honegger, Gründer und wissenschaftlicher Leiter von
Walking Tree Publishers, macht in seinem Aufsatz deutlich, warum der Drache die Menschen seit jeher fasziniert und warum dieses Ungeheuer auch im 21. Jahrhundert immer wieder in Erscheinung tritt – und sei es nur in der Spielwarenabteilung der Kaufhäuser. Honeggers Untersuchung schärft somit unseren Blick dafür, welche Veränderungen das Drachenbild in der Literatur und Kultur historisch durchlaufen hat und welche Vorstellungen vom Fabelwesen Drache bis heute präsent und damit wirkungsmächtig sind.
Friedhelm Schneidewinds Begeisterung für die Musik in Tolkiens Werk teilt er mit
Heidi Steimel, mit der zusammen er einen lesenswerten Sammelband zur Musik in Mittelerde herausgegeben hat. Für den vorliegenden Band hat sich Heidi Steimel die Mühe gemacht, ein Lexikon mit den wichtigsten Personen, Orten, Instrumenten und Begriffen, die im Zusammenhang mit der Mittelerde-Musik stehen, zusammenzustellen. Für den geneigten Leser mag dieses Kompendium ein kundiger Führer dabei sein, den Spuren der Musik in Tolkiens Werk genauer zu folgen.
Dr.
Oliver Bidlo widmet sich in seinem Beitrag
Tolkien und der Jugendstil der Frage, wie Tolkien die Kunst des Zeichnens in seine Arbeit hat einfließen lassen. Tolkien hat nicht nur geschrieben, sondern oft zuerst eine Szene, Situation oder eine Figur gezeichnet, bevor er begann, über sie zu schreiben. Bidlo zeigt auf, wie unterschiedlich der Jugendstil Eingang in Tolkiens Denken gefunden hat. So geht der Einfluss des Jugendstils über die Ausgestaltung einzelner (z. B. elbischer) Artefakte (Schmuck, Architektur u. a.) in Mittelerde hinaus. Als Urquelle für die Bedeutung des Jugendstils bei Tolkien wird im Beitrag die Geistesströmung der Romantik identifiziert, als deren Anhänger Tolkien ausgewiesen wird.
Runen spielen in Mittelerde eine vielfältige Rolle. Umso interessanter ist es, dass es bisher kaum eine fundierte Auseinandersetzung mit diesen besonderen Zeichen gibt und sie meist im Schatten der elbischen Schrift und Sprache stehen.
Sebastian Kleinen gibt in seinem Beitrag Einführung in die Runenkunde von Mittelerde einen profunden Überblick über die vielschichtigen Runenschriften in Tolkiens Werk. Im Gegensatz zu den anderen Schriften in Mittelerde hat Tolkien die Runen nicht selbst erfunden, sondern rekurriert auf germanische und angelsächsische Runenreihen, die er teilweise übernimmt oder ableitet. Daher ist die Beschäftigung mit den Runen in Mittelerde zugleich auch eine Beschäftigung mit ihrer real-historischen Bedeutung und ihrer entsprechenden Geschichte.
In
Iluvatar, steh uns bei! untersucht
Stefan Servos, der Gründer und Chef von
herr-der-ringe-film.de, das Thema Religion aus laientheologischer Sicht – ein hochinteressanter Ansatz, der einen neuen Aspekt in den Blätterwald von (in der Regel fach-)theologisch ausgerichteten Untersuchungen der Mittelerdedichtung darstellt. Seit längerem wird diskutiert, dass es merkwürdig ist, dass der überzeugte Katholik eine Welt und Gesellschaftsformen geschaffen hat, die von einem auffälligen Fehlen religiöser Elemente – etwa offener Gottesverehrung, Kulthandlungen, Tempel oder Kirchen – gekennzeichnet ist, während der Autor Mittelerde doch als eine Welt natürlicher Religion (
Letters 220) und fairy-stories, worunter natürlich auch Der Herr der Ringe fällt, als biblisch inspiriert bezeichnete (
OFS 62-66). Eng am Text arbeitend, stellt Servos die erstaunlich vielfältigen und plötzlich offensichtlich erscheinenden Stellen heraus, die eben diese natürliche Religion und die Verbindung zur christlichen Weltsicht zeigen. Dabei wird auch klar, dass Tolkien mit dem polytheistischen Einfluss der Mythen, die er so sehr liebte und mit einfließen lassen wollte, kämpfte und dass deshalb Der Herr der Ringe ein mehrschichtiges Bild auch in Fragen religiöser Konnotationen zeigt.
Wie kommt das Böse in die Welt? Und zwar in die Welt Mittelerde J.R.R. Tolkiens. Diese Frage stellt der bekannte
Fantasy-Experte Dr.
Helmut Pesch in Die Wurzel des Bösen und sucht wie Tolkien selbst bei dem mittelalterlichen englischen Dichter Geoffrey Chaucer, der die Habgier - cupiditas oder possessiveness, eine der Kardinalsünden - als den Quell des Bösen in unserer realen Welt ausmacht. Pesch zeigt, dass die Verurteilung der Habgier Tolkiens Werk durchzieht, auch außerhalb von Der Herr der Ringe, betrachtet sie dann aber höchst differenziert und zeigt auf, dass sie in verschiedenen Formen auftritt und mit Ambivalenzen einhergeht, die zeigen, dass sich die Wurzel des Bösen doch nicht so einfach identifizieren lässt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wieder zeigt sich, dass der schnelle schwarz-weiße Pinselstrich dem Werk des Professors nicht gerecht wird.
Nicht nur die analytische Auseinandersetzung mit der Phantastik als Thema findet sich in diesem Band, sondern auch eine künstlerische Herangehensweise. Diese verdanken wir der wohl bekanntesten deutschen Tolkienillustratorin,
Anke Eissmann. Die
Künstlerin hat nicht nur jeden Aufsatz mit einer stilvollen Illustration bereichert, sondern auch das Titelbild und den Umschlag des Bandes entworfen und gestaltet. Hierbei hat sich Anke Eissmann von einem imaginären Schreibtisch Schneidewinds inspirieren lassen, der die oben angesprochenen Themen reflektiert.
Auch Spiegel reflektieren etwas – so wie das Werk Schneidewinds und die Aufsätze dieses Buches. Aber das, was gespiegelt wird, ist mehr und anders, als der oberflächliche erste Eindruck nahelegt. So wie Alice ins Wunderland, wandern auch wir zwischen den Spiegeln durch die Gefilde der Phantastik und gelangen zu neuen Perspektiven und Reflexionen auf vermeintlich Bekanntes. Die Funde dieser Wanderung wollen präsentiert werden. Ein besonderer Dank geht deshalb an Dirk Bartholomä, den Veranstalter der RingCon und unzähliger anderer phantastischer Events, der auch fernab des Mainstreams uns so genannten intellectuals eine Plattform für die Vorstellung und Diskussion unserer Arbeit bietet.
So weit zu dem Buch. Wenn Sie Fragen dazu haben - immer her damit. Und sonst wünschen wir uns natürlich, dass Sie sich das Buch anschaffen. Es ist normal über den Buchhandel, Onlinehändler oder direkt beim Verlag, www.oldib-verlag.de, erhältlich.