Donnerstag, 1. März 2012

Vom Wert der Übertreibungen

Das hervorstechendste Wesensmerkmal der Phantastik sind gar nicht diese ollen Monstren, Raumschiffe und Zauberer an sich. Hervorstechend ist vielmehr die Übertreibung, die sich in diesen Bildern vom Monster und vom Zauberer ausdrückt. Nur ziehe ich vor, aus dem negativen Begriff der Übertreibung die Zuspitzung zu machen. Die Phantastik spitzt in ihren Berichten vom Unmöglichen zu und bringt die Dinge auf den Punkt.

Am eindeutigsten ist dies in der Science Fiction zu sehen. Wenn in der SF beispielsweise technische Möglichkeiten skizziert werden, indem eine Geschichte von einem Unsterblichkeitsserum berichtet, so wird anhand dieses mehr oder weniger abwegigen Beispiels beim Leser oder Zuschauer das nicht im Geringsten abwegige Nachdenken um den Sinn und Wert des Lebens und des Sterbens angestoßen.

Doch auch die Zuspitzungen der Fantasy bringen Dinge auf den Punkt, die im realen Leben von Bedeutung sind. Wenn etwa eine Fantasygeschichte ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat und diese ganz konkreten Gefahren ausgesetzt ist, so kann das Fragen im Bereich des Glaubens ebenso aufwerfen wie im Bereich der Psychologie und der persönlichen ethischen Einstellungen.

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Die Bedeutung der Übertreibung in der Phantastik besteht nicht darin, von Todesstrahlen zu erzählen, die ganze Welten ausradieren können und auch nicht darin, von muskelbepackten Kämpfern zu berichten, die einen rasenden Stier mit der linken Hand niederringen. Der Sinn der Übertreibung besteht darin, Situationen zuzuspitzen wie sie in der Realität nicht vorkommen können und Spotlights zu entzünden, die Sachverhalte ausleuchten, um daraus Schlüsse ziehen zu können, die in der Realität Bedeutung annehmen.

Ich muss allerdings einräumen, dass man den obigen Absatz in der Tat vor allem einer ganzen Reihe von Regisseuren und Autoren ins Stammbuch schreiben sollte, die den Hokuspokus gedankenlos, nachäffend, phantasiearm, oberflächlich und um seiner selbst willen einsetzen.

Spotlights entzünden zu wollen, steht im Mittelpunkt der phantastischen Erzählung. Und dazu eignen sich Bücher, Filme oder auch Computerspiele aus dem Bereich der Phantastik besser als alle anderen Genres. In der Phantastik besteht nämlich die Möglichkeit, sich von den Vorgaben der realen Welt zu lösen und eigene Welten zu erschaffen. Welten, die genau so eingerichtet sind, wie es die Autoren für ihre Erzählzwecke haben möchten. Der britische Dichter W. H. Auden sagte über die Welten, die die Phantasten erschaffen: „Aus ihnen können wir alle Dinge verbannen, die wir nicht für heilig, wichtig oder zauberhaft halten“ (Auden 44, meine Übersetzung).

Natürlich müssen die Autorinnen und Autoren dabei in einem glaubwürdigen Rahmen bleiben, und das erreichen sie nur, wenn sie sich an Prinzipien der Logik, der Folgerichtigkeit und der Nachvollziehbarkeit orientieren, wie wir sie aus der Realität kennen. Für ihre Geschichten gilt allgemein, was ich schon zur Fantasy sagte: Innerhalb der Geschichten besteht ein Wahrheitsanspruch, die Geschichten müssen in sich stimmig sein. Dann aber stehen ihre Handlungen zwar außerhalb des vergleichsweise engen Rahmens den unsere Realität bietet, aber ihre phantastischen Metaphern, ihre irrealen Zuspitzungen stehen für Probleme und Erfahrungen, die wir aus der Realität kennen und leuchten diese aus. Und die Übertreibung bildet den Scheinwerfer, die Zuspitzung ist das Flutlicht, das unser Denken mit neuen Ideen überschwemmt …

Dieser kleine Text ist einem Vortrag entnommen, den ich morgen halte. In diesem Sinne, bis morgen Abend, Freitag, 2.3.2012, 18 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl in Witten, Marktstraße 5: Vortrag, Fantasy und andere Wolkenkuckucksheime



Freitag, 17. Februar 2012

Der Wortlaut jener Rede von Angela Merkel zum Rücktritt von Christian Wulff, die sie dann doch nicht hielt

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit großem Bedauern nehme ich mal wieder den Rücktritt eines Bundespräsidenten zur Kenntnis. Er war doch ganz nett. Und hübsch anzuschauen … besonders seine Frau Bettina. Ist doch schade drum, oder?

Mehr noch aber erfüllt mich mit Bedauern, was für einen Aufstand Presse und Bevölkerung um den Mann und sein Leben gemacht haben, und zwar immer wieder mit Verweis auf das Amt. Ich bitte Sie doch sehr. Und richte folgende Frage an Ihr Gewissen: Lohnte das? All die Unruhe um den Bundespräsidenten?

L´état c´est moi - der Staat bin ich. Ist es denn wirklich wichtig, wer unter mir Bundespräsident ist? Oder Bundestagspräsident? Bundesverfassungsrichter? Papst? Sind doch alles sowieso nur meine Erfüllungsgehilfen.

Und an mir wissen Sie, was Sie haben und können auch gewiss sein, dass mir niemals irgendwelche Skandale und Skandälchen Ungemach bereiten werden.

Lehnen Sie sich also zurück, lassen Sie sich überraschen, wen ich jetzt zum Präsidenten machen werde und stören Sie nicht länger meine Kreise. Danke.

Gott schütze mich, guten Tag.


Mittwoch, 19. Oktober 2011

Vom Tod, eine Anthologie - Aufruf zum Schreiben

Ja, die RingCon sie macht vorher Arbeit und dann kommt man mit noch viel mehr zurück. Aber vieles davon macht sehr viel Spaß, so auch dieses hier: ein Aufruf, eine Geschichte über den Tod zu verfassen. Und zwar in der Form, dass der Tod als Handelnder in irgendeiner Form vorkommt. Lust drauf?

Friedhelm Schneidewind und ich legen einen neuen Kurzgeschichtensammelband in der Reihe "Edition Stein und Baum" auf. Das haben wir schon zwei Mal gemacht, und es sind wirklich schöne Bücher dabei herausgekommen. Das wird sicher auch dieses Mal der Fall sein. Machen Sie doch mit und senden Sie uns eine Geschichte ein.

Hier die nötigen Infos:

»Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen
ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein.«
aus »Der Gevatter Tod«, ein Märchen der Brüder Grimm

VOM TOD
Um Liebe, Leidenschaft und Tod drehen sich viele der besten Werke in Literatur, Film, Musik und anderen Kunstformen. Und nicht selten taucht er oder sie in Person auf, in der Fantasy-Literatur beispielsweise bei Terry Pratchett, Cornelia Funke, Joanne K. Rowling und Fritz Leiber, in Kino und Fernsehen nicht erst im 1998 »Rendezvous mit Joe Black« und 1960 im DE FA-Film »Gevatter Tod« nach dem Märchen der Brüder Grimm, sondern auch schon in frühen Filmen und sogar in der Werbung.

Die Märchen und Sagen mit dem handelnden Tod als Person sind unzählbar, im Decamerone taucht er ebenso auf wie in vielen Kunstmärchen, in der Bildenden Kunst ist er spätestens seit den mittelalterlichen Totentänzen häufig dargestellt,
und er taucht in vielen Liedern auf wie etwa in »Der Tod und das Mädchen«.

VOM TOD als Person also sollen die Geschichten handeln, die wir suchen, für unsere Anthologie, die im Herbst 2012 erscheinen soll.

Eingang — po_de (228 E-Mails)

Ablauf:
Einsendung wenn möglich bisher unveröffentlichter Texte an den Verlag (s. u.) bis zum 30.03.2012 – Auswahl durch die Herausgeber Friedhelm Schneidewind und Frank Weinreich bis Ende Mai 2012 – Lektorat bis Ende Juli 2012 – Buchvorstellung Herbst 2012.

Bedingungen: Die Urheberrechte verbleiben bei den AutorInnen, der Verlag erwirbt das Recht des Abdrucks in der Anthologie. Honorar gibt es ab dem 1000. verkauften
Exemplar. AutorInnen können Bücher mit einem Rabatt von 30 % erwerben; sie verpflichten sich, mindestens 10 Exemplare abzunehmen.

Verlag der Villa Fledermaus
Verlag und Produktionsgesellschaft Helen Schneidewind – Villa Fledermaus
Sitz: Villa Fledermaus · A uf der Adt 14 · 66130 Saarbrücken
Schlossgasse 51 · 69502 Hemsbach (Deutschland/Germany)
Tel. 06201 4709292 · Fax 06201 4709293
www.villa-fledermaus.de · www.stein-und-baum.de

Montag, 17. Oktober 2011

Die gelungene Überraschung: unser neues Buch "Zwischen den Spiegeln"

Es war ein arbeitsamer Sommer ... mehr kann ich als Entschuldigung für das verwaiste Blog nicht anführen. Aber gerade komme ich von der RingCon zurück und muss Ihnen jetzt unbedingt davon erzählen, wie uns die Überraschung mit dem letzten Buchprojekt gelungen ist, mit "Zwischen den Spiegeln. Neue Perspektiven auf die Phantastik", das am Freitag erschienen ist und auf der RingCon dem Publikum und einem völlig erstaunten Friedhelm Schneidewind vorgestellt wurde.

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Denn es ist letztlich sein Buch, ein Buch für einen bedeutenden Forscher, von dem wir befürchten mussten, dass er bald nicht mehr unter uns sein würde, und der auch jetzt und in Zukunft unter dem Damoklesschwert des Krebses leben muss.

Damit plaudere ich nichts aus, was Friedhelm nicht recht wäre. Denn er selbst hat vor einem Jahr auf der RingCon seine Krebserkrankung in offensiver Weise öffentlich gemacht und steht auch jetzt jederzeit dazu, was nicht einer gewissen Beispielhaftigkeit entbehrt, mit diesem immer noch mit einem Tabu versehenen Thema umzugehen.

Auf eben dieser RingCon 2010 setzten sich Julian Eilmann und Oliver Bidlo ziemlich geschockt zusammen, und überlegten, wie man Friedhelm in so einer Situation helfen könnte. Nun, jeder auf seine Weise eben. Und unsere Weise, die der Schreiberlinge, ist nun mal das Schreiben. Schnell war die Idee geboren, Friedhelm eine Festschrift zu widmen, und ich freue mich sehr, dass Julian und Oliver sofort an mich dachten (letztes Jahr war ich das erste Mal nicht auf der Con), ihnen bei der Arbeit als Herausgeber, Lektor und Autor zu helfen. Geschriebene Worte sind die Währung, in der wir uns mit der Welt verständigen, und so sollten es auch geschriebene Worte sein, die Friedhelm zur Seite stehen würden.

In erster Linie natürlich als Trost und zum Mut machen. Als Beweis, dass seine Freunde an seiner Seite stehen. Aber durchaus auch praktisch, denn alle Beteiligten verzichten auf jegliche Einnahmen, so dass alles, was das Buch erwirtschaftet, auf Friedhelms Konto überwiesen wird. Für uns Freiberufler ist Krankheit nämlich immer mindestens eine doppelte Belastung: Zum Kranksein tritt der Verdienstausfall hinzu. (Versicherungen? Ja klar. Verdienen Sie erst einmal ausreichend, um das angemessen versichern zu können.)

In erster Linie aber soll der Band Friedhelms Schneidewind Arbeit als Autor und Forscher ehren. Seine Bücher und Artikel, aber auch Kurzgeschichten, Lieder und Theaterstücke über Phantastik gehen in die Dutzende und stellen einen wichtigen Beitrag zum Fundus der Phantastik dar wie auch zur Forschung über das Genre. Die Drohung, dass diese Stimme verstummen könnte, machte uns wieder klar, wie sehr alle Arbeit rund um die Kunst und Literatur von den Individuen getragen wird, die sie verrichten.

Die meiste Arbeit heutzutage wird in Teams erledigt, und das ist nicht nur nötig und angemessen, sondern kommt auch unserem Wesen als Menschen entgegen. Kreative arbeiten natürlich auch in Teams, aber ein Gutteil ihrer Arbeit ist doch eine ganz individuelle Leistung des Schöpfens, des genauen Durchdenkens, der einsamen Geistesblitze und analytischen Schritte. Umso auffälliger ist dann die Lücke, wenn jemand nicht mehr da ist, an dessen Geistesblitze man sich gewöhnt hat. Soweit ist es jetzt, nach erst einmal erfolgreicher Therapie, zum Glück bei Weitem noch nicht, doch erschien uns die Situation dringlich, diese Stimme zu ehren und ihm in unserer Währung zu zeigen, was wir von ihm halten, solange er noch da ist.

Und das sahen die Freunde, die wir ansprachen und um Mitarbeit an dem Buch baten, genauso. (Eine Aufstellung der Autorinnen und Autoren sowie des Inhaltes finden Sie in diesem Blogbeitrag.) Und damit ging eine echte Geheimoperation los. Denn eines war klar: Es sollte eine Überraschung werden.

Was gar nicht so leicht ist, wenn alle Beteiligten gute Freunde des zu Überraschendne sind. Konspirativer Mailverkehr musste unter Verschluss gehalten werden, vorbereitende Sitzungen mussten im Untergrund abgehalten werden, und wenn wir jemandem aus unserem Bekanntenkreis von dem Vorhaben erzählten, so mussten wir ihn danach töten. Besonders lustig fand ich, dass Julian, wenn er mir eine Mail schrieb, immer dreifach checkte, dass die wirklich an mich ging, denn Frank beginnt ja mit den gleichen Buchstaben wie Friedhelm.

Spannend wurde es besonders, als das Programm der RingCon 2011 online ging, denn dort war ja die Buchvorstellung angekündigt. Und Friedhelm, interessierter Freund, der er ist, wollte natürlich wissen, was wir denn da für ein Projekt vorstellen würden. Es war eine Zeit der Ausflüchte und des Leugnens und man wagte kaum mehr, das Klingeln des Telefons zu bedienen.

Und er hat bis zum Schluss nix gemerkt! Sie können sich kaum vorstellen, was für einen Spaß es gemacht hat, im Beethoven-Saal des Maritim zu stehen, Friedhelm unten im Publikum, das Buch hochzuhalten und es ihm zu widmen.

Oh, er war gerührt. Seine Freude allein wäre es schon Wert gewesen, das Buch gemacht zu haben.

Wenn wir am Schreibtisch sitzen und etwas schreiben, dann tun wir das immer mit ganzem Ernst und der Überzeugung, das Richtige zu tun. Manchmal aber bekommt man eine ganz unmittelbare Bestätigung, dass das auch wirklich geklappt hat ...

Neues Buch erschienen: Zwischen den Spiegeln

Es ist ein neues Buch im Oldib-Verlag erschienen, an dem polyoinos als Herausgeber und Autor beteiligt war: Zwischen den Spiegeln. Neue Perspektiven auf die Phantastik. Es enthält neun Aufsätze zur Phantastik im Allgemeinen sowie Tolkien im Besonderen, die vor allem eines vereint: Sie spiegeln die Arbeitsgebiete wieder, die Friedhelm Schneidewind beschäftigen. Denn dieses Buch ist vor allem eine Festschrift für ihn, für einen bedeutenden Phantastikforscher, dessen schwere Erkrankung uns vor einem Jahr wieder einmal zeigte, dass Forschung besonders an den forschenden Personen hängt, und den wir deshalb mit diesem Buch ehren und auch Trost und Hoffnung spenden wollten. Zur Entstehungsgeschichte des Bandes, die von traurig bis zu komisch reichte, gibt es hier einen eigenen Blogbeitrag.

Dazu ist es uns gelungen, Freunde zusammenzutrommeln, die alle gerne - und mit Herzblut - dazu beigetragen haben, einen würdigen Sammelband auf die Beine zu stellen. Das ergab eine Autorenmischung von frischen jungen Autoren, wie Sebastian Kleinen, der hier seine erste Publikation vorlegt, bis zu alten und im Genre bestens bekannten Hasen, wie Helmut Pesch oder Thomas Honegger. Tüpfelchen auf dem i war der unschätzbare Beitrag von Anke Eissmann, die das Cover entworfen und jeden einzelnen Beitrag mit einem eigens gezeichneten Bild eingeleitet hat.

Natürlich können Sie von mir hier nichts anderes erwarten als einen Lobpreis des Buches, aber ich glaube, der ist berechtigt und weise deshalb mit nicht geringem Stolz auf den Band hin.

Worum es im Einzelnen geht? Das erfahren Sie in dem folgenden Auszug aus der Einleitung:

Frank Weinreich (ich weiß, der Esel nennt sich selbst zuerst, aber meiner ist nun mal der erste Beitrag in dem Buch ...) untersucht in Die Pole der Fantasy die Bandbreite des Genres Fantasy hinsichtlich ihrer Wirkung am Beispiel des von J.R.R. Tolkien ins Spiel gebrachten Begriffes der Verzauberung - enchantment (On Fairy Stories, OFS 14) -, die Genrewerke auszulösen vermögen. Er zeigt dabei eine Entwicklung der Fantasy auf, die sich von Tolkiens Prinzip der Verzauberung entfernt und stattdessen einen zunehmend realistischen Ansatz verfolgt, der seinen derzeitigen Höhepunkt in den Büchern Joe Abercrombies findet, dem es auf die Verzauberung seiner Leser überhaupt nicht mehr anzukommen scheint. Da aber Fantasy eine spielerische Suche darstellt, die Bedürfnisse des Menschen nach Sinn und einer höheren Ordnung zu befriedigen, droht das Genre auf diesem Wege, seinen ursprünglichen Charakter grundlegend zu wandeln. Dass dies trotz aller Weiterentwicklung und Modernisierung von Erzählweisen und -themen nicht zwangsläufig so sein muss, und dass Fantasy ihre Leserinnen und Leser weiterhin in zauberhafte Reiche zu entführen vermag, zeigt Weinreich abschließend am Beispiel der Werke Andrzej Sapkowskis und seines Geralt-Zyklusses auf.

Anja Stürzer zieht in Wormtongue und Wormtail einen Vergleich zwischen Tolkiens Lord of the Rings und Joanne K. Rowlings Harry Potter. Obwohl Rowling einen wesentlichen Einfluss Tolkiens auf die Bücher ihres Zauberschülers bestreitet, gelingt es Stürzer, manche Parallele als offensichtlich ins rechte Licht zu rücken und andere, erstaunlichere Parallelen vor Augen zu führen, die doch eine engere Verwandtschaft zwischen diesen beiden Fantasy-Highlights nahelegen, als dies der erste Blick auf die beiden Bücher vermuten lässt. Dabei beschränkt die Autorin sich nicht auf eine mehr oder weniger ergiebige Aufzählung inhaltlicher Details, sondern lässt Strukturelemente, Erzähltechniken, Figurenkonstellationen, die unterliegenden Ethiken und den mythologischen Hintergrund in den Vergleich einfließen, sodass neben einer bloßen Gegenüberstellung auch weitergehende Analysen für beide Werke vorgenommen werden.

Im Blickfeld von Julian Eilmanns Aufsatz steht Tolkiens Die Kinder Húrins, eine Erzählung, die bei manchen Lesern den Eindruck erweckt, dass es sich hierbei um ein „tragisches“ Werk handelt. Diesen Leseeindruck greift Julian Eilmann in seiner Studie auf und geht der Frage nach, inwiefern die Geschichte Túrin Turambars tatsächlich als eine Tragödie im Sinne der aristotelischen Tragödientheorie verstanden werden kann. Durch einen genauen Vergleich zwischen den von Aristoteles beschriebenen Wesensmerkmalen der Tragödie und Tolkiens Erzählung wird dabei deutlich, wie die tragische Wirkung der Túrin-Geschichte im Detail zustande kommt und was den besonderen Reiz der Erzählung ausmacht.

Drachen stellen eines der bekanntesten Wesen der Phantastik dar und sind deshalb immer wieder in zahlreichen mythologischen Texten und Werken der phantastischen Literatur präsent. Nicht zuletzt Tolkien hat den Drachen in den Gestalten Smaugs oder Chrysophylax´ ein literarisches Denkmal gesetzt. Professor Thomas Honegger, Gründer und wissenschaftlicher Leiter von Walking Tree Publishers, macht in seinem Aufsatz deutlich, warum der Drache die Menschen seit jeher fasziniert und warum dieses Ungeheuer auch im 21. Jahrhundert immer wieder in Erscheinung tritt – und sei es nur in der Spielwarenabteilung der Kaufhäuser. Honeggers Untersuchung schärft somit unseren Blick dafür, welche Veränderungen das Drachenbild in der Literatur und Kultur historisch durchlaufen hat und welche Vorstellungen vom Fabelwesen Drache bis heute präsent und damit wirkungsmächtig sind.

Friedhelm Schneidewinds Begeisterung für die Musik in Tolkiens Werk teilt er mit Heidi Steimel, mit der zusammen er einen lesenswerten Sammelband zur Musik in Mittelerde herausgegeben hat. Für den vorliegenden Band hat sich Heidi Steimel die Mühe gemacht, ein Lexikon mit den wichtigsten Personen, Orten, Instrumenten und Begriffen, die im Zusammenhang mit der Mittelerde-Musik stehen, zusammenzustellen. Für den geneigten Leser mag dieses Kompendium ein kundiger Führer dabei sein, den Spuren der Musik in Tolkiens Werk genauer zu folgen.

Dr. Oliver Bidlo widmet sich in seinem Beitrag Tolkien und der Jugendstil der Frage, wie Tolkien die Kunst des Zeichnens in seine Arbeit hat einfließen lassen. Tolkien hat nicht nur geschrieben, sondern oft zuerst eine Szene, Situation oder eine Figur gezeichnet, bevor er begann, über sie zu schreiben. Bidlo zeigt auf, wie unterschiedlich der Jugendstil Eingang in Tolkiens Denken gefunden hat. So geht der Einfluss des Jugendstils über die Ausgestaltung einzelner (z. B. elbischer) Artefakte (Schmuck, Architektur u. a.) in Mittelerde hinaus. Als Urquelle für die Bedeutung des Jugendstils bei Tolkien wird im Beitrag die Geistesströmung der Romantik identifiziert, als deren Anhänger Tolkien ausgewiesen wird.

Runen spielen in Mittelerde eine vielfältige Rolle. Umso interessanter ist es, dass es bisher kaum eine fundierte Auseinandersetzung mit diesen besonderen Zeichen gibt und sie meist im Schatten der elbischen Schrift und Sprache stehen. Sebastian Kleinen gibt in seinem Beitrag Einführung in die Runenkunde von Mittelerde einen profunden Überblick über die vielschichtigen Runenschriften in Tolkiens Werk. Im Gegensatz zu den anderen Schriften in Mittelerde hat Tolkien die Runen nicht selbst erfunden, sondern rekurriert auf germanische und angelsächsische Runenreihen, die er teilweise übernimmt oder ableitet. Daher ist die Beschäftigung mit den Runen in Mittelerde zugleich auch eine Beschäftigung mit ihrer real-historischen Bedeutung und ihrer entsprechenden Geschichte.

In Iluvatar, steh uns bei! untersucht Stefan Servos, der Gründer und Chef von herr-der-ringe-film.de, das Thema Religion aus laientheologischer Sicht – ein hochinteressanter Ansatz, der einen neuen Aspekt in den Blätterwald von (in der Regel fach-)theologisch ausgerichteten Untersuchungen der Mittelerdedichtung darstellt. Seit längerem wird diskutiert, dass es merkwürdig ist, dass der überzeugte Katholik eine Welt und Gesellschaftsformen geschaffen hat, die von einem auffälligen Fehlen religiöser Elemente – etwa offener Gottesverehrung, Kulthandlungen, Tempel oder Kirchen – gekennzeichnet ist, während der Autor Mittelerde doch als eine Welt natürlicher Religion (Letters 220) und fairy-stories, worunter natürlich auch Der Herr der Ringe fällt, als biblisch inspiriert bezeichnete (OFS 62-66). Eng am Text arbeitend, stellt Servos die erstaunlich vielfältigen und plötzlich offensichtlich erscheinenden Stellen heraus, die eben diese natürliche Religion und die Verbindung zur christlichen Weltsicht zeigen. Dabei wird auch klar, dass Tolkien mit dem polytheistischen Einfluss der Mythen, die er so sehr liebte und mit einfließen lassen wollte, kämpfte und dass deshalb Der Herr der Ringe ein mehrschichtiges Bild auch in Fragen religiöser Konnotationen zeigt.

Wie kommt das Böse in die Welt? Und zwar in die Welt Mittelerde J.R.R. Tolkiens. Diese Frage stellt der bekannte Fantasy-Experte Dr. Helmut Pesch in Die Wurzel des Bösen und sucht wie Tolkien selbst bei dem mittelalterlichen englischen Dichter Geoffrey Chaucer, der die Habgier - cupiditas oder possessiveness, eine der Kardinalsünden - als den Quell des Bösen in unserer realen Welt ausmacht. Pesch zeigt, dass die Verurteilung der Habgier Tolkiens Werk durchzieht, auch außerhalb von Der Herr der Ringe, betrachtet sie dann aber höchst differenziert und zeigt auf, dass sie in verschiedenen Formen auftritt und mit Ambivalenzen einhergeht, die zeigen, dass sich die Wurzel des Bösen doch nicht so einfach identifizieren lässt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wieder zeigt sich, dass der schnelle schwarz-weiße Pinselstrich dem Werk des Professors nicht gerecht wird.

Nicht nur die analytische Auseinandersetzung mit der Phantastik als Thema findet sich in diesem Band, sondern auch eine künstlerische Herangehensweise. Diese verdanken wir der wohl bekanntesten deutschen Tolkienillustratorin, Anke Eissmann. Die Künstlerin hat nicht nur jeden Aufsatz mit einer stilvollen Illustration bereichert, sondern auch das Titelbild und den Umschlag des Bandes entworfen und gestaltet. Hierbei hat sich Anke Eissmann von einem imaginären Schreibtisch Schneidewinds inspirieren lassen, der die oben angesprochenen Themen reflektiert.

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Auch Spiegel reflektieren etwas – so wie das Werk Schneidewinds und die Aufsätze dieses Buches. Aber das, was gespiegelt wird, ist mehr und anders, als der oberflächliche erste Eindruck nahelegt. So wie Alice ins Wunderland, wandern auch wir zwischen den Spiegeln durch die Gefilde der Phantastik und gelangen zu neuen Perspektiven und Reflexionen auf vermeintlich Bekanntes. Die Funde dieser Wanderung wollen präsentiert werden. Ein besonderer Dank geht deshalb an Dirk Bartholomä, den Veranstalter der RingCon und unzähliger anderer phantastischer Events, der auch fernab des Mainstreams uns so genannten intellectuals eine Plattform für die Vorstellung und Diskussion unserer Arbeit bietet.

So weit zu dem Buch. Wenn Sie Fragen dazu haben - immer her damit. Und sonst wünschen wir uns natürlich, dass Sie sich das Buch anschaffen. Es ist normal über den Buchhandel, Onlinehändler oder direkt beim Verlag, www.oldib-verlag.de, erhältlich.

Donnerstag, 14. Juli 2011

Lecture: Fantasy - Definition, History, Characteristics and Meaning

In May I had the honor of giving a talk at the University of Aachen, in which I was given the task to present the genre of fantasy within one hour´s length. The text of this lecture is online now after Dr. Margaret Hiley was so kind to turn my Pidgin English into something presentable. Thanxalot, Meggie!

The talk is a condensed version of thoughts and insights I have published about Fantasy scattered over various articles and books over the last ten years. So if you have been reading the respective articles on polyoinos, you won´t find very much new stuff. But you will find my arguments neatly lined up and get a good impression of what fantasy is about, so I hope you won´t find it a waste of time to look up this (alas, not so short, ~ 8.500 words) article, even if you are familiar with what is published on my site.

Hope you enjoy: Fantasy - Definition, History, Characteristics and Meaning

Montag, 4. Juli 2011

Neuer Artikel über Genres

Das waren anstrengende vier Wochen, in denen neben den üblichen Aufträgen vier Vorträge und eine Kurzgeschichte entstanden. Jetzt nähern sich die Sommerferien und so langsam klärt sich auch mein Schreibtisch.

Von den fünf kürzlich entstandenen Schriften kann ich Ihnen hier auf polyoinos erst einmal nur eine anbieten, denn die Kurzgeschichte hat noch ein ungeklärtes Rechteproblem und drei der vier Vorträge sind für die Veröffentlichung andernorts reserviert. Doch die Genrebetrachtungen kommen hier zu stehen, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sie lesen und eventuell sogar einen Kommentar hinterließen.

Je mehr ich mich mit den Genres der phantastischen Literatur befasse und mit Kolleginnen und Kollegen austausche, desto stärker wird mir klar, wie fragil der Genrebegriff ist, wie fließend alle Grenzen sind. Und dass man doch nicht auf Genres verzichten kann. Nicht nur wegen des Buchmarketings, für die Genres lebenswichtig sind, sondern auch für die literarische Diskussion. Nur, so finde ich, sollte man die Genres ganz entspannt sehen, weil die Klassifikationsmöglichkeiten eben starken Einschränkungen unterliegen, derer man sich im Gespräch bewusst sein sollte.

Das habe ich mal in einem Gedankengang zusammengefasst und auf dem letzten Elbenwaldspektakel vorgetragen. Die Publikumsresonanz bestärkte mich darin, dass die Ideen wohl ganz brauchbar sind, aber lesen Sie doch bitte selbst: Fantasy, Science Fiction, Horror - Gedanken über die Aussagekraft von Genreeinteilungen in der phantastischen Literatur.