Mittwoch, 8. Dezember 2010

Die WikiLeaks-Herausforderung

WikiLeaks hat zigtausende Dokumente veröffentlicht, die ein hochinteressantes Licht auf die Art und Weise werfen, wie internationale Beziehungen wirklich funktionieren. Mehr ist seitens WikiLeaks nicht passiert; kein Geheimnisverrat, keine Spionage, kein echter Schaden, obwohl ihnen genau das vorgeworfen wird. Und man eine Hexenjagd auf Julian Assange anstellt, die jetzt auf höchst gefährliche Weise ausgedehnt wird. Denn mit Assange ist es nicht getan. Jetzt zeigt die Politik, wenigstens die amerikanische, aber die europäischen Regierungen dürften nachziehen, worauf sie wirklich hinauswill - auf die Abschaffung der Pressefreiheit. Denn nichts anderes steht hinter dem Versuch Senator Liebermans, nun sogar die New York Times zu kriminalisieren.

Assange ist jetzt dran und wird wohl nicht mehr davor zu bewahren sein, auf immer in irgendwelchen Gefängnissen zu verschwinden. (Wir regten uns vor ein paar Jahren darüber auf, wie Putin seinen Kritiker Chodorkowski in bester Tyrannenmanier ins Gefängnis werfen ließ; jetzt tun die USA das gleiche und ehemals politisch-freiheitlich vorbildliche europäische Nationen wie Großbritannien und Schweden helfen dabei, pfui!) Dabei hat Assange nichts anderes gemacht als das, was die New York Times, Der Spiegel, The Guardian und El Pais in der selben Angelegenheit auch machen: Er hat Material von öffentlichem Interesse veröffentlicht, das ihm aus authentischer Quelle zugespielt wurde.

Was für ein Schaden wurde denn angerichtet? Sollte wirklich jemand geglaubt haben, dass die Diplomaten und Politiker in ihren eigenen Zirkeln und untereinander nicht so miteinander über einander reden, wie die veröffentlichten Depeschen es jetzt zeigen, so wird ihm diese Naivität jetzt hoffentlich ausgetrieben worden sein.

Und alles andere ist Propaganda. Natürlich wusste Westerwave vorher, dass die internationalen Mitdiplomaten ihn für unfähig halten. Natürlich wusste Ahmadinedschad vorher, das König Abdullah ihn gerne tot sähe. Einzig Berlusconi dürfte zu notgeil sein, um die Realität wahrzunehmen. Und unsere Kanzlerin dürfte sich durch den Beinamen "Teflon" noch geschmeichelt fühlen.

Wenn sich der eine oder andere jetzt oder in Zukunft publikumswirksam über den einen oder anderen erregen wird, so dient dies nur dazu, eben diesem Publikum in der Hoffnung eine Show zu liefern, dass es sich von den eigentlich allseits bekannten Vorwürfen nur aus dem Grund beeindrucken lässt, weil sie mit dem Hinweis auf angeblich geheime Meinungen und Erkenntnisse untermauert werden. Propaganda eben! Propaganda, die sich auf WikiLeaks und Assanges Arbeiten stützt, die sich in nichts von anderen journalistischen Arbeiten unterscheiden. (Hier ein aktueller Artikel von Assange selbst, der genau das eindringlich schildert.)

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WikiLeaks´Zukunft?

Auf die gleiche Art, wie nun die diplomatischen Berichte der USA, flogen nämlich F-J. Straußens Lockheed-Verstrickungen auf, wurde Watergate publik gemacht, gelangten zahllose andere politische Skandale ans Licht der Öffentlichkeit. Genau das versuchte Chodorkowski in Russland und wurde von einer abhängigen Justiz erledigt. Letzteres, so stellt es sich heute dar, ist nun wohl auch bei uns möglich, wenn sich der Vorsitzende des Heimatschutzausschusses der USA nun traut, gegen das publizistische Flaggschiff des Landes mobil zu machen.

Was tun? Sicher nicht Mastercard oder Paypal mit DoS-Attacken ärgern, denn das bringt genauso viel wie Eric Cantonas gestriger Versuch, mit Hilfe von ein paar Dutzend Fans, die ihr Geld abhoben, die französischen Banken in den Ruin zu treiben.

Was dann? Weiterschreiben, weiterpublizieren, weiterhin Informationen bereit halten, wie es die wunderbaren Unterstützer von Wikileaks machen, die das Archiv mittlerweile so im Netz verteilt haben, dass es auch die USA nicht mehr rausbekommen.

Die IT ist Gefahr, viel mehr aber noch Chance für die Freiheit. Jedes Blog, jeder kleine Twitter-Zweizeiler, ja jeder Klick auf Facebooks "Gefällt mir"-Button, der sich den Themen Meinungs- und Pressefreiheit widmet, hilft, für die Themen zu sensibilisieren, hilft, das Nachdenken zu fördern, hilft, andere Menschen zu aktivieren. Eine andere (ethisch saubere) Möglichkeit haben wir nicht. Das Maul nicht aufzumachen, bedeutet, dass wir irgendwann alle wie unter chinesischer Zensur leben werden. Auch in den USA, auch hierzulande. Das zu verhindern, ist die Wikileaks-Herausforderung.



Sonntag, 28. November 2010

Keine Angst (mehr!) vor Tzvetan Todorov

Wer sich theoretisch mit der Phantastik befasst, stolpert einerseits zwangsläufig über Tzvetan Todorovs Theorie der Phantastik, andererseits hört man auch aus berufenem Expertenmund immer wieder: "Müssen wir uns denn wirklich noch mit Todorov befassen?" Ja, muss man noch; das, und warum das, zeigt Simon Spiegels neustes Buch, das einen schönen neuen Zugang zu dem bekannten und bekanntlich schwer verdaulichen Theoretiker eröffnet.

Man muss sich bei einer literaturwissenschaftlich orientierten Sichtweise auf die Phantastik in der Tat mit Todorov befassen, denn vor allem die Herangehensweise ist wichtig, um die literaturwissenschaftliche Diskussion zu verstehen. (Oder nein, muss man nicht unbedingt, Uwe Dursts Theorie der phantastischen Literatur, LitVerlag 2010, ist aktueller, umfangreicher und besser - aber genauso schwer zu verstehen.) Zum Glück kann man sich Todorov jetzt aber viel einfacher nähern, denn der Wissenschaftler und Journalist Simon Spiegel hat eine exzellente Einführung in Todorovs Werk geschrieben, das die Originallektüre zwar nicht ersetzt, aber sie auch für den Fachfremden so aufschlüsselt, dass man Todorov nun folgen und ihn angemessen im Theoriekanon verorten kann: Simon Spiegel: Theoretisch Phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau: p.machinery 2010.

Dies behaupte ich auch auf die Gefahr hin, dass Todorov-Fans bzw. Vertreter der strukturalistischen Denkschule das ganz anders sehen mögen, denn Spiegel geht sehr kritisch mit Todorov um (Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, Ullstein 1972; nur noch antiquarisch auf Deutsch erhältlich, aber problemlos in Englisch, Französisch zu erwerben). Vielleicht ist kritisch aber auch das falsche Wort, denn Spiegel zeigt die durchaus vorhandenen positiven, weil erkenntnisfördernden Seiten von Todorovs Theorie der Phantastik auf, und ordnet sie dann, methodisch sauber, in das Gesamtgefüge der möglichen Literaturbetrachtungen ein; eine Einordnung, bei der Todorov dann aber manche Feder lässt, denn Spiegel kann schlüssig zeigen, dass die Theorie der Phantastik einen ziemlich engen Geltungsbereich hat und ganz viele Fragen, die sich dem Publikum phantastischer Werke stellen, gar nicht beantworten kann (aber auch nicht beantworten will).

Todorov ist Strukturalist, was heißt, dass er sein Untersuchungsgebiet anhand struktureller Merkmale und gänzlich innerhalb des Untersuchungsgebiets verbleibend betrachtet: Es zählt das Buch/der Film als solcher, sonst nix. Die phantastische Literatur hat so besehen beispielsweise keinen Bezug zur Realität. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie etwa auf diesen Seiten lesen können - mich interessiert, in welchem Verhältnis zur Realität die Phantastik steht, und was man aus ihr lernen kann. Für den Strukturalisten gibt es auch keine gute oder schlechte Literatur, nur Literatur mit bestimmten Merkmalen - der Struktur -, die eine Zuordnung erlauben. Der Strukturalist enthält sich damit jeglicher Interpretation - was darin begründet ist, dass Interpretationen nicht objektivierbar sind, und damit einen nicht unproblematischen wissenschaftlichen Charakter haben. Das ist auch alles wissenschaftlich sehr sauber, wenn man es durchhalten kann.

Das kann man auch alles bei Todorov selbst lesen, aber es hilft ungemein, wie Spiegel das herausarbeitet. Und damit gleichzeitig herausarbeitet, dass selbst Todorov große Schwierigkeiten hat, dem hohen Anspruch gerecht zu werden. Dauernd kommt es nämlich doch zu Vergleichen oder Beziehungen von Literatur und Realität sowie zu wertenden Einlassungen. Das dürfte auch kaum zu vermeiden sein, denn - das steht so nicht bei Spiegel, aber ich empfinde es so - ein wirklich sortenreiner Strukturalismus, stellt nichts weiter als die Konstruktion von Schubladen dar. Schubladen aber eignen sich nur zum Verstauen von Dingen, wir wollen jedoch mit der Phantastik umgehen (lernen).

Was an der Phantastik interessiert, ist doch beispielsweise die alte Frage: Was will der Autor damit sagen/erreichen? Oder es geht darum, warum die Science Fiction in den Vierzigern und Fünfzigern boomte, warum sie in den Sechzigern und Siebzigern so kritisch wurde und wieso die Fantasy gerade jetzt ein Allzeithoch zu haben scheint. Oder eben, welche Bücher und Filme gut sind. Oder was die Faszination der Phantastik ausmacht. Das interessiert aber aus strukturalistischer Sicht alles nicht beziehungsweise es ist ein Tabu, denn hier wird es interpretatorisch, und interpretieren darf der Strukturalist nicht.

Nachdem Spiegel das sehr schön herausgearbeitet hat, kann er auch deutlich machen, was hinter den - na ja, ich sage mal eigenwillig -, was hinter den eigenwilligen Kategorien der Phantastik bei Todorov steckt. Die reine Phantastik macht Todorov ja beispielsweise daran fest, dass sie ein Schwebezustand sei, in dem unentscheidbar ist, ob Geschehnisse natürliche oder übernatürliche Ursachen haben. Eine so verstandene Phantastik trifft natürlich auf sehr enge Grenzen und hat insbesondere mit aktueller phantastischer Kunst nicht viel zu tun. Aber auch das arbeitet Spiegel sehr schön heraus, wenn er auf den eingeschränkten, von Todorov zugrundegelegten Kanon verweist, und dass die Gültigkeit von Todorovs Überlegungen in besonderem Maße zeit- und werkabhängig ist. (Was die Auswahl im Übrigen auch zu einer sehr subjektiven Angelegenheit macht; nee, dat wird vorne und hinten nix mit der Objektivität, Leute.)

Die größte Stärke für den interessierten Laien ist aber Spiegels Dechiffrierung der literaturwissenschaftlichen Sprechweisen und Codes von Todorov und einschlägigen anderen Autoren. In "Theoretisch Phantastisch" wird alles auf eine klare Sprache heruntergebrochen; eine Ausdrucksweise, die ich persönlich für die einzig wahre halte, während der sonstige Wissenschaftssprech, gerade in den Kulturwissenschaften, für mich mehr mit standesdünkelhaften Ausgrenzungsversuchen zu tun hat als mit den Erfordernissen einer schwierig zu umschreibenden Materie. Ein Beweis, dass das geht, ist Spiegels Buch. Das kann manchmal, gerade auf den ersten Seiten, wenn man sich noch hineinliest, ein bisschen herablassend wirken, ist aber keinesfalls so gemeint. Spiegel zeigt damit viel eher, dass er sein Publikum ernst nimmt und verstanden werden will. Für mich ist der Stil jedenfalls beispielhaft, und ich werde versuchen, mich selbst noch mehr in diese Richtung zu entwickeln.

Übrigens ist Theoretisch Phantastisch auch sehr schön ausgestattet, mit übersichtlichem Layout, hilfreichen Marginalien und dezenter Bebilderung. Besonders hervorzuheben sind die schönen Zeichnungen von molosovsky (etwa das Titelbild, s. u.), Porträts, in dem gleichen Stil, wie sie auch seine Website schmücken: molochronik.antville.org/.

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Mittwoch, 17. November 2010

Nominierung zum Wissenschaftsbuch des Jahres

"die fantastischen 6", eine Biographiensammlung, herausgegeben von Charlotte Kerner, mit den Lebensläufen von Mary Shelley, Bram Stoker, Tolkien, Stanislaw Lem, Philip K. Dick und Stephen King, zu der polyoinos den Beitrag über Tolkien beisteuerte, ist nominiert worden für den Preis "Wissenschaftsbuch des Jahres", ausgeschrieben vom österreichischen Buchhandel und dem dortigen Wissenschaftsministerium. Die Nominierung gilt für den Bereich Junior-Wissensbücher, in dem Werke prämiert werden, die sich an Kinder und Jugendliche richten.

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Eine von Experten besetzte Jury wählt etwa 20 Bücher eines Publikationsjahrganges aus, und stellt diese dann zur Publikumswahl. Umso mehr freue ich mich, dass "die fantastischen 6" es überhaupt geschafft haben, die Jury zu beeindrucken, die etliche hundert deutschsprachige Bücher jedes Jahr einsieht und einige wenige vorschlägt.

Noch mehr würde ich mich natürlich freuen, wenn es weiterginge und wir die Wahl auch gewännen. Darf ich Sie also bitten, den folgenden Link zu besuchen, und dort für dieses Buch abzustimmen? Vielleicht gewinnen Sie sogar einen der Buchpreise für die gute Tat.
Hier wird abgestimmt.

Vielen Dank!



Montag, 4. Oktober 2010

In fremden Welten. Impressionen von der Gründungskonferenz der GFF

Die Gesellschaft für Fantastikforschung e. V. ist letztes Wochenende mit der Konferenz Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert gegründet worden – Glückwunsch an alle Beteiligten und Mitglieder, besonders aber an den Hauptorganisator Lars Schmeink, der ganz Erstaunliches auf die Beine gestellt hat. Und vielen Dank für all die Arbeit!

Aus dem Wunsch heraus, der Forschung über das Phantastische eine Organisation an die Seite zu stellen, und so alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen, nachhaltig zu vernetzen, ganz wie es die großen englischsprachigen Organisationen seit Jahrzehnten erfolgreich vorleben, entstand ein Verein, dessen erste Schritte in Hamburg an diesem Wochenende erwarten lassen, dass er dieser Aufgabe gerecht wird.

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Na gut, es war schon eine Art Klassentreffen, denn man kennt sich ja. Aber um etwas zu bewegen, bedarf es eben doch für viele Aufgaben der Organisation.

Was meiner Meinung aber noch wichtiger ist, ist das zweite Ziel, das sich ohne institutionelle Anlaufstelle auch nicht effizient verwirklichen ließe – die Einbindung von Wissenschaft in die außerwissenschaftlichen phantastischen Diskurse von Urhebern und Publikum. Autorinnen und Fans waren aufgerufen, sich an der GFF zu beteiligen, und der Ruf wurde von beiden erhört.

Wie wichtig das war, zeigte sich bei der anregenden Schlussdiskussion, auf der Autoren und Vertreter von Fanorganisationen über ihre Arbeit und Wünsche aufklärten und der Wissenschaft darlegten, was sie auch noch tun kann, außer innerhalb des Elfenbeinturmes zu agieren. Als grenzgängerischer Autor/Lektor/Experte bin ich persönlich diesen Anliegen natürlich besonders zugeneigt, hatte aber den Eindruck, dass das allgemein als ganz wichtiger Punkt empfunden wurde. Die Verbindung zum Publikum und zu den Autoren (natürlich auch Regisseure, Designer, Musiker - zu allen Urhebern eben) ist wesentlicher Bestandteil des GFF und darf nicht aus den Augen verloren werden.

Inhaltlich war die Konferenz breit gefächert, aber trotzdem drängte sich mir durchgängig der Eindruck einer Zweiteilung innerhalb der wissenschaftlichen Interessen auf. Ganz salopp gesagt, bezeichne ich das mal als das unterschiedliche Erkenntnisinteresse an Struktur und Inhalt der Fantastik, das dann auch zu Reibungen und (wahrscheinlich vermeidbaren) Inkompatibilitäten führte. Jedenfalls scheint mir da im Augenblick noch eine vermittelnde Instanz zu fehlen, die Inhalt und Struktur zusammenbringt, vielleicht sogar zu konzertierten Forschungsvorhaben. Noch jedenfalls erstreckt sich die Inkompatibilität bis hin zu einer Unvereinbarkeit in der Terminologie.

Und nein – dies für diejenigen von Ihnen, die dabei waren – damit meine ich zwar auch, aber bei Weitem nicht nur den Disput zwischen Uwe Durst und mir (der sich im Übrigen im persönlichen Gespräch viel weniger scharf darstellte); diesen Eindruck empfand ich fast durchgängig, je nachdem in welchem Panel man gerade saß. Während die einen streng die Form untersuchten, machten sich die anderen – etwa äußerst launig Marleen Barr mit ihrer Beobachtung, dass man die New York Times nicht verstehen kann, wenn man nicht weiß, wer Spock und Darth Vader sind, dass man also die „language of science fiction“ beherrschen muss – über die Lebenswirklichkeit her und berichteten davon, wie die Phantastik diese beeinflusst.

Festgehalten werden muss dabei, wie ich finde, dass beide Aspekte ihre volle Berechtigung haben, was die Forscherinnen und Forscher dann auffordert, sich dem anderen Erkenntnisinteresse zumindest so weit aufgeschlossen zu zeigen, dass man anerkennt, dass es eine Daseinsberechtigung hat. Und vielleicht findet man ja doch auch noch auf Arbeitsebene zueinander – ich bin sicher, man würde sich gegenseitig befruchten.

Grundsätzlich sind die Inkompatibilitäten beider Betrachtungsweisen nämlich nicht, sondern vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängig. Wenn ich also höre, dass in einer Diskussion, an der ich nicht teilnahm, gesagt wurde, mein Realismusbegriff sei „noch eindimensional“, dann verweise ich darauf, dass ich diese Eindimensionalität benötige, wenn ich das Verhältnis von fiktivem Inhalt und der nichtfiktionalen Lebenswelt untersuche und sie deshalb für diese Fragestellungen beibehalten werde. Bei der Betrachtung anderer Aspekte kann das anders aussehen.

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("Lesender" - aus Anwyn - eine phantastische Reise)


Was ich zudem mit einem gewissen Erstaunen bemerkte, ist, dass man sich offenbar immer noch dafür entschuldigen muss, wenn man sich als Wissenschaftlerin ernsthaft mit Phantastik beschäftigt. Das korrespondiert dann mit der Aussage der Autoren, dass man weiterhin nicht als richtiger Schriftsteller anerkannt wird und mit dem Bericht der Fans, dass man sowieso aus der Spinnerecke komme. Da hätte ich gedacht, dass wir auch in Deutschland mittlerweile weiter wären.

Doch es wurde nicht nur berichtet, dass man sich rechtfertigen muss, auch der Duktus sehr vieler Vorträge war von dieser Haltung geprägt und kaum jemand kam ohne apologetische Anmerkungen aus, die insgesamt von einem zu Unrecht unterentwickelten Selbstbewusstsein sprachen. Das mache ich zwar auch oft, aber ich habe eben in den letzten Jahren öffentlich auch hauptsächlich entweder mit Fans zu tun, denen ich Munition zur Verteidigung ihrer phantastischen Leidenschaft an die Hand geben möchte, oder spreche andererseits vor Unbeteiligten oder Skeptikern, denen ich darlegen muss, welche Formen von Relevanz die Phantastik annehmen kann. (Lassen Sie sich bspw. mal einladen, vor Rotariern über Fantasy zu sprechen – man schaut sie an wie ein exotisches Tier, aber nach dem Vortrag haben Sie manches Auge geöffnet.)

"Amerika (und UK), Du hast es besser" – im englischsprachigen Raum scheint das längst nicht mehr so ein Problem zu sein. Warum nicht das gleiche Selbstbewusstsein hier? Brian Stableford jedenfalls forderte in seiner Keynote „the GFF should explore the possibilities and and not only defend the phantastic against its critics“. Genau!

Die Defensivität kann natürlich auch von einer gewissen Vereinzelung oder besser Insellage der heterogenen Gruppen, die sich mit Phantastik beschäftigen, herrühren, denn man ist sich der argumentativen und anderer Stärken der anderen nicht unbedingt ausreichend bewusst. Dem genau kann natürlich eine Organisation wie die GFF und eine offengehaltene Tagung wie die „Fremden Welten“ Abhilfe verschaffen und hat dies auch in ersten Schritten schon getan.

Nächstes Jahr Salzburg und 2012 Zürich werden das fortsetzen und die neuen und alten Bekanntschaften aus Hamburg werden die Inseln mit Fähren und Brücken verbinden, so dass man insgesamt über die Gründungskonferenz sagen kann: Voller Erfolg!


Dienstag, 7. September 2010

Neue Kurz-Geschichte(?): Collage - Eine typische Bewerbung

Bewerbungsschreiben können recht erhellend sein. Erhellendes über das Individuum, eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft offenbaren.

Ich habe mal eine typische Bewerbung zusammengestellt, die ... sozusagen ... auf wahren Begebenheiten beruht. Und in der wir uns hoffentlich nicht mehr wiederfinden. Bitte sehr:
Die Collage einer Bewerbung.

Samstag, 4. September 2010

Netzveröffentlichungen richtig einordnen. Appell für ein "Neues Lesen".

Neulich habe ich auf Facebook einen sich selbst verstetigenden Fehler begangen, als ich impulsiv die Story des Filmes Inception als “genial” lobte. Aber zumindest brachte mich dieser Ausrutscher, im Zusammenspiel mit einem Artikel von Thomas Darnstädt im Spiegel - zum Nachdenken über die Art und Weise wie wir im Internet lesen oder schreiben ... sollten?

Darnstädt äußert die Sorge, dass die Digitalisierung der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit selbst zerstören könnte, denn der ständige und bleibende Zugriff auf nahezu alle im öffentlichen Raum erzeugten Daten bewirke, dass man sich nicht mehr in die Öffentlichkeit des Netzes traue:
“Die erste Hoffnung des Bürgers, der etwas Dummes gesagt hat, ist die, dass es keiner gehört hat. Doch Google findet alles. Die zweite Hoffnung, dass es irgendwann in Vergessenheit gerät. Doch digitale Speicher halten sehr lang.”

Wir reden dabei nicht über Meineide, Steuerhinterziehung oder Ehebruch, sondern über alle möglichen Dummheiten, die man so begehen kann. Wie beispielsweise die, einem Film Genialität zuzusprechen, auch wenn er sie im wahren Sinne des Wortes nicht hat.

Doch, doch; ich finde Inception immer noch “genial” - aber eigentlich mehr so im Sinne von geil oder toll. Simon Spiegel, der durch ein sehr gutes Buch über die Poetik des Science-Fiction-Films bekannt wurde, wies aber zurecht darauf hin, dass der Film doch einige Ungereimtheiten aufweise.

Richtig. Und damit - das hat Simon jetzt netterweise nicht gesagt - kann man die Story schwerlich als wirklich genial bezeichnen, denn diese Schwächen widersprechen dem, was man im Allgemeinen als genial ansieht (“genial” laut Fremdwörterduden: “großartig, vollendet”).

Blöde Sache, oder? Der bekannte Autor, der landauf, landab über die Phantastik doziert, macht einen solchen Fehler. Und jeder kann den jetzt “hören” und das Netz wird ihn nicht mehr “vergessen”. Und das trifft auf Millionen anderer digitalisierter Äußerungen zu, die Millionen anderer Menschen jetzt oder später gerne wieder einfangen würde ... Chef-Schelte, Kotz-Videos, Wutausbrüche - was auch immer ...

Wie geht man damit um? Neben der Verweigerung der Teilhabe gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Neues Schreiben (vorsichtigeres, zurückhaltendes ... unehrliches Schreiben) aneignen oder Neues Lesen lernen.

Auf die Verweigerung der vernetzten Kommunikation gehe ich jetzt nicht ein, das ist ein anderes Thema. Auch ein anderes Thema ist, dass man sich oftmals nicht verweigern kann, obwohl man dies vielleicht vorzöge.

Neues Schreiben (darunter fällt auch das Posten von Video, Audio - gemeint ist jede ‘Lautäußerung’ im Netz) ist im Grunde das, was die meisten Medien und Bildungsinstitutionen als Ratschlag anbieten: Sei vorsichtig! Denk drei Mal nach, bevor Du einmal schreibst! Halte möglichst viel zurück! Denke strategisch! Stell Dich vorteilhaft dar!

Ja ja, das ist sicherlich das Klügste ... Aber ist es auch das, was ich sein will? Nöö. Denn das bin ich nicht, zumindest nicht nur. Ich bin nicht nur vorsichtig; ich bin impulsiv, manchmal einfach mitteilsam und will, wenn schon darstellen, dann mich darstellen, wie ich bin. Aber das ist natürlich nur ein persönliches Problem.

Vor allen Dingen kollidiert das Neue Schreiben aber mit grundlegenden Freiheits- und Demokratiegedanken. Das kontrollierte Posten von Inhalten, die in erster Linie mit dem Blick auf ihre eigenpositive Wirkung angefertigt wurden, stellt nichts weniger dar als die Schere im Kopf und ist somit Zensur aus vorauseilendem Gehorsam.

Zu Freiheit und zu demokratischem Zusammenleben gehört aber, sich gemäß der eigenen Überzeugungen einzubringen. Es ist letztlich der berühmte Habermas-/Apelsche herrschaftsfreie Diskurs, der vom Neuen Schreiben unterdrückt wird und somit ein Rückschritt bis mindestens vor die gesellschaftspolitischen Erkenntnisse der späten Sechziger des letzten Jahrhunderts.

Aber da ist doch das Diktat des imaginierten Personalchefs oder des einem in zehn Jahren über den Weg laufenden potentiellen Partners, die beide googeln können ... Wie entkommt man denen?

Gar nicht. Denen kann man nur durch das Neue Schreiben entgegenkommen. Es sei denn natürlich, diese beiden - und alle anderen Menschen - gewöhnten sich das Neue Lesen an.

Das Neue Lesen ist in erster Linie ein kontextbezogenes Lesen, das den Leser auffordert, die Umstände eines Postings immer mitzuberücksichtigen. Im Zeitungsartikel oder wissenschaftlichen Arbeit gelten andere Regeln, als im Small Talk. Privat kann heute öffentlich stattfinden und ist doch nicht das Gleiche wie eine Publikation. Und in sozialen Netzwerken kommt beides vor.

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Öffentliche Kommunikation: nicht immer schlau oder schön ...

Angebereien, Streiche, Unwahrheiten - das sind vollkommen normale zwischenmenschliche Vorkommnisse, die eben auch ihren Weg ins Netz finden können. Auch Lügen sind im täglichen Miteinander nötig, um sich und andere zu schützen und zu schonen. All das ist im Netz ebenso entschuldbar - und sollte entschuldigt werden -, wie wir das üblicherweise in der physischen Welt auch tun.

Selbst so etwas Ekliges wie die Teilnahme an Cybermobbing (solange nicht gerade Rädelsführerschaft beweisbar ist) ist gemein, kann aber prinzipiell entschuldbar sein. Wer meint, das nicht vergeben zu können, sollte an das Glashaus derjenigen gruppendynamischen Prozesse denken, in denen er selbst gefangen ist. Das Neue Lesen geht jedenfalls ebenso nachsichtig mit den Internetteilnehmern um wie mit einem fassbaren Gegenüber, den Sie ja hoffentlich auch nicht sofort verdammen.

Fast jeder Jugendliche hat auf einer Fete schon einmal Scheiß fabriziert, und es ist auch nicht unbedingt unterhaltsam, derartigem Unsinn auf YouTube zuzuschauen. Aber es disqualifiziert ihn oder sie auch in keiner Weise, wenn der Blödsinn mal videotechnisch dokumentiert wurde. Also - Schwamm drüber. Usw.: Unbequemes auch mal überlesen, nicht alles auf die Goldwaage legen, Nachsicht zeigen. Und selbst doch immer versuchen, sich an die Netiquette zu halten! Dann wird es schon was mit dem Netznachbarn ...

Was wir lernen müsse, ist, die neuen Formen der Schriftlichkeit richtig einzuordnen und sie nicht mit der alten Schriftlichkeit zu verwechseln. (Dazu gehören, wie gesagt, auch Foto, Video und Audio - vielleicht sollten wir von neuen Formen unvergänglicher Kommunikationsinhalte reden, wenn das nicht so sozio-bürokratisch klänge.)

Das hat es ja auch schon einmal in ähnlicher Form gegeben. Die grandiose Briefkultur ab dem 18. Jahrhundert in ganz Europa unterschied sehr wohl die gelehrten publizierten Schriften von den manchmal auch gelehrten, oft aber auch einfach persönlichen, frechen, unbedachten und flapsig dahingerotzten Briefen, ohne dass letztere gleich den Ruf ihrer Schreiber wie Voltaire, Goethe oder Heine in den Dreck gezogen hätten.

Für den gefürchteten, angeblich IT-belesenen Personalchef unserer Zeit heißt das: Lerne das Neue Lesen! Trenne Privates von beruflich Relevantem und erinnere Dich vor allem daran, dass Du früher in der Jugend und heute im Privatleben auch anders auftratest und -trittst.

(Wenn es dann aber bei aller hoffentlich nun einsetzenden Fairness doch einfach nicht zu ertragen ist, dass jemand sich so und so darstellt, dann ist es wahrscheinlich sowieso besser, dass diese beiden nicht beruflich zusammenkommen.)

Das Neue Lesen ist jedenfalls dem zur Zeit viel vehementer geforderten Neuen Schreiben weit überlegen: Es ist ehrlicher, entspricht unserem sozialen Wesen viel mehr und es hilft, Öffentlichkeit und demokratische Teilhabe zu erhalten, die das Neue Schreiben durch die Schere im Kopf in der Tat bedroht.

So, und jetzt rümpfen Sie bitte nicht mehr die Nase über die Castle Age-Battle Requests auf meiner Facebookseite, die gehören nämlich manchmal auch zu mir ...



Freitag, 30. Juli 2010

Traumfragment

Nachdem ich heute Nacht ziemlich lange einen Traum geträumt habe, in dem es um ständige Anstrengungen, Ängste und diffus-gefährliche Situationen ging, wachte ich frühzeitig auf und konnte mich nur noch an das Ende des Traumes erinnern. Es war eine zutiefst traurige Szene, die man, bei entsprechend misanthropischer Grundstimmung, als gleichartiges Ende einer jeden Geschichte bezeichnen könnte:

[Die Szene scheint auf einer leeren Ebene zu spielen, unterbrochen nur von zackigen, aber nicht allzu großen Gebilden, die ebenso gut Steine wie Schrott sein könnten. Der Himmel ist gelb und hängt tief über dem Land. Ein paar Wolkenfetzen - oder Rauch? - schweben nahe des Bodens in der Luft. Dieser Boden ist dreckig und von Pfützen bedeckt.]

Sie erhoben sich langsam und blickten müde über die weite, desolate Ebene hinweg. Sie waren verschwitzt und stanken und viele bluteten. Und es waren nicht nicht mehr alle dabei, auch wenn die meisten es geschafft hatten.

Der junge Chris fragte: "Und das war es nun? Das war alles, was wir erreichen konnten?"

"Ja", antwortet irgendjemand.

"Und das wird immer so sein?"

"Ja."

"Und deshalb werden wir immer diese Geschichte erzählen?"

"Ja."

Chris schüttelte den Kopf und begann loszustapfen ...

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(Foto aus "Anwyn" von Juxart; www.juxart.de)